Eingeführt und herausgegeben von Prof. Dr. Michael Schulz
SIEWERTH
DAS WESEN DER BEGABUNG
Das Manuskript mit dem Titel „Das Wesen der Begabung“ aus dem Nachlass des Philosophen und Pädagogen Gustav Siewerth (1903-1963) wird in dieser Ausgabe zum ersten Mal veröffentlicht. Der Text entstand nach Auskunft des Freundes und Herausgebers von Schriften Gustav Siewerths, Franz-Anton Schwarz (Freiburg) 1960 in St. Blasien. Offensichtlich hat diese Abhandlung keine weitere Überarbeitung erfahren. Der unvollendete Charakter des Manuskripts, das nach Auskunft von Herrn Schwarz innerhalb von einer Woche verfasst wurde, ist nicht zu übersehen. Der Gedankengang bricht unversehens ab. Viele Abschnitte stellen mehr oder weniger ausführliche Exkurse zum Thema der Begabung dar. Der große Vorteil dieser Abhandlung liegt in der durch diese Exkurse geschaffenen Verbindung des Themas der Begabung mit den philosophischen Grundanliegen Siewerths. Hierin besteht der besondere Wert dieses Textes, weshalb er der Öffentlichkeit nicht vorenthalten werden soll. In konzentrierter Form entfaltet Siewerth den Hauptgedanken dieser Abhandlung im Aufsatz „Reife und Begabung in metaphysischer Sicht und Deutung“, der 1960 zum ersten Mal erschien und wieder abgedruckt wurde in der Aufsatzsammlung „Hinführung zur Exemplarischen Lehre“ (Freiburg 1965, 37-56; Konstanz 2003, 27-39).
Dem vorliegenden Manuskript fehlt nicht nur eine Untergliederung des Textes, die in einfacher Form redaktionell nachgetragen wurde. Siewerth gibt außerdem nur allgemeine Hinweise auf Autoren und Quellen, auf die er sich bezieht. Diese Hinweise wurden im Text beibehalten, aber in hinzugefügten Fußnoten ergänzt. Offenbar hat Siewerth viele Zitate aus dem Gedächtnis in den Text gesetzt. Nicht immer folgt ihr Wortlaut exakt der Quelle. Die Fußnoten 28 und 29 stammen aus Siewerths eigener Hand.
Gustav Siewerths Ausführungen zur Begabung provozieren durch ihre gewagte These. Danach ist der Mensch ursprünglich begabungslos. Siewerth opponiert mit dieser These gegen ein Verständnis von Begabung, nach dem diese wie ein bereits fertiges Programm vorgegeben ist, das durch die Kunst der Pädagogik nur abgerufen und zur Entfaltung gebracht werden muss. Siewerth zufolge impliziert die Vorstellung von einer äußeren Stimulation der angeborenen Talente außerdem die Auffassung, dass die Entfaltung des Begabungspotentials durch den einmal stimulierten Menschen selbst erfolgt; er verwirklicht seine ihm naturhaft mitgegebenen Anlagen selbst.
Im Gegenzug orientiert sich Siewerth an der ursprünglichen Semantik des Wortes „Begabung“. Dieses Wort gibt zu erkennen, dass der Mensch begabt wird, Begabung als Gabe empfängt. Dies geschieht in der Begegnung sowohl mit anderen Menschen als auch mit der Umwelt. Dieses Begabungsgeschehen stellt Siewerth in einen ontologischen Zusammenhang. Wie alles Seiende durch den Seinsakt mit Wirklichkeit begabt wird, so erfolgt auch die Begabung des Menschen durch das Sein. Gegenüber der „Begabungsmacht des Seins“ bestimmt Siewerth den Menschen mittels der Kategorie des Potentiellen. In gedanklicher Anlehnung an Thomas von Aquin definiert er den Menschen als substantia potentialis. Die Vorstellung von der Begabung als selbsttätiges Entwicklungsprogramm ist dadurch unterlaufen.
In diesem ontologisch-metaphysischen Kontext verortet Siewerth die „Begabungsmacht“ der Eltern, Erzieher und Lehrer eines Kindes. Sie begaben das Kind vor allem mit ihrer Liebe. Aus ihr heraus wächst der Mensch heran. Dass dabei unterschiedliche Begabungen und Fähigkeiten im gewöhnlichen Sinn des Wortes zu beobachten sind, führt Siewerth auf die unterschiedlich ausgeprägten Empfängnisgründe des Menschen zurück. Fähigkeiten des Menschen interpretiert Siewerth als „Fährtigkeiten“: nicht als bereits angeborene Formen selbsttätigen Könnens, sondern als spezifische Lernbereitschaften, als Weisen der Offenheit dafür, verschiedenen „Fährten“ und Spuren zu folgen, sozusagen auf Fahrt zu gehen, auf der durch Erfahrung eine Fähigkeit erst wie eine Gabe geschenkt und empfangen wird.
Siewerths Metaphysik der Be-Gabung profiliert gegenüber rein genetischen und mechanistischen Vorstellungen die personalistische Dimension der „Talentierung“. Siewerth rückt die Eltern sogar an die Stelle Gottes: selbstverständlich nicht um sie zu vergotten, sondern um ihre Würde und Verantwortung als Mittler des Gebers aller Gaben und Begabungen auszuzeichnen und herauszustellen. Vielleicht gewinnt der nie abreißende bildungswissenschaftliche Diskurs der Gegenwart durch die Rezeption der markanten Ausführungen Siewerths über das Wesen der Begabung eine entscheidende Perspektive hinzu. Genau darin kann der Sinn der Veröffentlichung dieses für heutige Leser sicherlich sperrigen Textes liegen.
Michael Schulz