Eingeführt und herausgegeben von Prof. Dr. Michael Schulz
GUSTAV SIEWERTH
DAS GUTE ALS BEWEGENDER GRUND DER FREIHEIT
Freiheit – kaum ein anderes Wort trifft die Identität des Menschen mehr als dieses. Gleichzeitig ist dieser Identitätsmarker heftig umstritten. Was ist Freiheit? Für einige Vertreter der Soziobiologie und Neurowissenschaften besteht sie in einer genetisch codierten, zerebralen Illusion, die im Verlauf der Evolution strategisch hilfreich war. Diese Illusion besticht noch heute. Mit ihr zieren sich emblematisch Moderne und Postmoderne trotz gegensätzlicher Grundoptionen. Sie dient als Legitimationsbegriff für Krieg und Frieden, Demokratie und sozialen Wandel, für eine nicht gemaßregelte Wirtschaftsordnung. Auch in Modewelt und Werbung wirbt die Umstrittene und angeblich Illusionäre mit ökonomischem Erfolg. Den Religionen gegenüber wird die nicht als Illusion verstandene Religionsfreiheit zum Kriterium ihrer Kompatibilität mit der Moderne erhoben. Ihrerseits bieten die Religionen mit ihrer Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen Hinweise zur Verwirklichung der Freiheit: Menschliche Freiheit ist Gleichnis göttlicher Macht, Autonomie und Fürsorge, ist Verpflichtung zu einem Handeln, das Gottes Engagement für Schöpfung und Menschheit bezeugt.
Diese religiöse Semantik des Freiheitsverständnisses entspricht der Rückbindung des die Französische Revolution verkörpernden Freiheitsparadigmas an die beiden revolutionären Koprinzipien der Gleichheit und Brüderlichkeit. Während mit dem Freiheitsparadigma gesellschaftlich und privat das Programm einer freien Selbstbestimmung assoziiert und propagiert wurde, wird dieses Paradigma zunehmend reformuliert im Angesicht des Anderen. Freiheit wird ohne Verantwortung und Solidarität zum fahrlässig-elitären Projekt. Sogar die Beschneidung und Reglementierung von Freiheit gewinnt an Plausibilität, z.B. in Gestalt einer gesetzlichen Domestizierung des globalen ökonomischen Liberalismus. Freiheit zeigt sich offenbar als ambigue Größe und provoziert einmal mehr den Diskurs über ihr Wesen.
Mitten in der Debatte um das Verständnis der Freiheit steht Gustav Siewerths (1903-1963)1 größtenteils im Herbst 1961 abgefasste Kommentierung der Ausführungen des Thomas von Aquin (1225-1274) über die Frage nach dem freien Willen. Der Philosoph und Pädagoge G. Siewerth kommentiert drei der vier Artikel, aus denen die zehnte Quaestio komponiert ist. Diese gehört zum ersten Teil des zweiten Hauptteils (oder Buches) der Summa Theologiae des Thomas von Aquin. Der mittelalterliche Autor erörtert die Fragen: Wird der Wille durch seine naturnotwendige Ausrichtung auf das Gute determiniert, dadurch aber vielleicht seiner Freiheit beraubt? Oder sind es Gegenstände, die ihn unwiderstehlich anziehen? Oder dominieren ihn die Triebkräfte unserer animalischen Natur? Oder wird der Wille von Gott mit Notwendigkeit bewegt? Siewerth kommentiert die ersten drei dieser vier Artikel deshalb, weil sie seiner Einschätzung nach in maßgeblicher und umfassender Weise die freiheitstheoretischen Positionen durchspielen, die man mit guten Gründen gegenüber der Annahme eines freien Willens vertreten könne: einen Determinismus des Willens durch seine Natur, durch sein Objektfeld oder durch die spontanen Impulse, Triebe und Leidenschaften des Menschen.
Es werden mithin deterministische Positionen erörtert, die ebenso die freiheitstheoretische Diskussion der Gegenwart bestimmen. Das Studium vergangener Freiheitsdebatten kann in diesem Diskurs die argumentativen Ressourcen bereichern, vor allem aber bewahrt es vor der Selbstüberschätzung, mit der Freiheitsthematik definitiv fertig werden zu können. Manche der Vertreter der erwähnten Neurowissenschaften geben in der Tat zu Protokoll, anhand empirischer Methoden eine prinzipielle Erklärung des Freiheitsbewusstseins offerieren zu können. Ihre Resultate stellten endlich einen Fortschritt dar im Unterschied zur philosophischen Diskussion, die in den letzten 2000 Jahren keine substantiellen Einsichten erbracht hätte. Eine Überprüfung dieser Forschungsergebnisse, die die Freiheit naturalistisch auflösen sollen, bestärkt jedoch den Verdacht, dass sich diese eliminativen Erklärungserfolge mentaler Zustände einer Komplexitätsreduktion der zu analysierenden Phänomene verdanken. Die Reduktion von Gründen (Motiven) des Handelns, die der Vernunft zugänglich sind, auf empirisch auszuweisende Ursachen kann nicht überzeugen 2 . Wer beispielsweise publizistisch um Zustimmung zu seinen extrem deterministischen Thesen wirbt, hofft selbstwidersprüchlich darauf, dass dem Leser die Gründe der vorgelegten Argumentation einsichtig werden. Es bleibt ebenso fraglich, ob eine durchgängige Verobjektivierung des Menschen in der empirischen Wissenschaft gelingen kann, wenn die Voraussetzung für das Vorhandensein von Forschungsobjekten, zu denen ebenso Gehirn und Psyche gehören, das menschliche Freiheitssubjekt darstellt. Das transzendentale Prinzip, das überhaupt erst Forschungsobjekte ermöglicht, und das ist das Freiheitssubjekt, kann nicht gleichzeitig ein Fall von Forschungsobjekten sein und schließlich im Feld der Objekte verschwinden. Selbst monistische Theorien können diesem Sachverhalt Rechnung tragen, indem sie die Differenz zwischen der „Ersten“ (Subjektivität) und „Dritten Person“ (der Mensch als Objekt der Forschung) nicht aufheben.
Das „Unmoderne“ und „Sperrige“ an der thomasischen Freiheitskonzeption, das durch Siewerths Kommentar nochmals profiliert wird und in dieser Einleitung auch nicht relativiert werden soll, besteht aber für nicht wenige Leser der Gegenwart nicht so sehr in der These von einem irreduziblen Freiheitssubjekt. Als problematischer wird man eher die ontologische und metaphysische Fundierung der Freiheitsthematik einschätzen. Denn in dieser Metaphysik wird die Freiheit als Eigenschaft des Willens aufgefasst, der seinerseits ein geistiges Vermögen der menschlichen Seele darstellt. Dieses vermögenstheoretische Verständnis der Freiheit ist der Vorstellung gewichen, nach der die Freiheit selbst als Synonym für menschliche Subjektivität steht. Das Freiheitssubjekt wird außerdem nicht als zu beweisende metaphysische Realität gedeutet, sondern als transzendentale Größe, die theoretisch anzunehmen oder zu postulieren ist, soll die unmittelbare praktische Erfahrung sittlichen Handelns eine Grundlage haben. Dennoch müssen diese veränderten Bedingungen nicht verhindern, die kommentierten Argumente des Thomas zu würdigen und innerhalb neuer Koordinaten zu rezipieren. Zu diesen neuen Koordinaten des Subjektverständnisses zählt der Versuch, das Subjekt vom Anderen – von dessen Sein und Gutsein – aus zu bedenken. Deshalb muss die von Thomas verfochtene und von Siewerth affirmierte Auffassung, nach welcher der freie Wille nur vom Guten her begriffen werden kann, nicht unvereinbar mit zeitgenössischen Ansätzen sein. Freilich, freiheitsphilosophische Antithesen sind unüberhörbar.
Der italienische Philosoph Luigi Pareyson (1918-1991) 3 beispielsweise setzt dagegen, dass man Freiheit nur von sich her denken könne; man dürfe sie nicht auf etwas anderes zurückführen: weder auf das Gute, das zum Handeln bewegt, noch auf eine menschliche Natur, zu deren Ausstattung der freie Wille erklärt wird mit der Vorgabe, diese Natur realisieren zu müssen. Freiheit sei vielmehr als Vermögen zum Guten und zum Bösen zu definieren. Als reine Selbstanfänglichkeit verlangt Pareyson die Freiheit zu denken, ja als etwas Absolutes, das keine Vorgaben kennt. Pareyson exerziert sein Freiheitskonzept auch theologisch durch. Der göttlichen Freiheit geht nichts voraus, kein göttliches Sein oder Wesen. Pareyson sieht Gott vor eine Urwahl zwischen Sein und Nichtsein gestellt. Erst durch die Entscheidung für das Sein sei Gott; durch die divine Entscheidung gewinne das Sein die Qualität des Guten, das Nichtsein die des Bösen. Der selbstanfänglichen Freiheit geht nur ihr Nichts voraus: ihr eigener Abgrund.
Thomas gibt mit dem ersten Einwand, der den Artikel einleitet, zu verstehen, dass die von ihm vertretene These, die eine naturbedingte Ausrichtung des Willens auf das Gute behauptet, in der Tat der Vorstellung von einem freien Willen widerstreiten könnte. Siewerth macht in seinem Kommentar darauf aufmerksam, dass Thomas zuvor in der sechsten Quaestio den Nachweis für freie Handlungen des Menschen geführt hat: Wer, wie der Mensch, von sich aus wissentlich nach einem Ziel strebt, ist frei; er wird nicht von externen Größen dazu bewegt, sondern er ist durch sich selbst – durch das Wissen und Urteil seines Verstandes – motiviert. Wegen des Handelns aus innerlich erfassten und affirmierten Gründen – und nicht aufgrund mechanisch wirkender Ursachen – muss menschlichen Handlungen die Qualität der Freiheit – das Freiheitliche / voluntarium – zugesprochen werden. In der zehnten Quaestio setzt Thomas, so Siewerth, mit einer gegenläufigen Denkbewegung an: nicht um sich selbst ins Wort zu fallen, sondern um in einem neuen Anlauf das bereits Bewiesene aus einer anderen Perspektive zu vertiefen.
Ausführlich erläutert Siewerth dieses Argumentationsverfahren: Die Einwände ergeben sich nicht willkürlich, sondern jeweils von der Sache selbst her, oft aufgrund einer einfachen Beobachtung, einer vermeintlichen oder tatsächlichen Ähnlichkeit mit einer anderen oder aufgrund der Aussage einer wichtigen Autorität der Tradition.
Aristoteles, der im ersten Einwand als Autorität und Zeuge der Tradition aufgerufen wird, unterscheidet das freie Handeln von naturnotwendigem Wirken. Er unterstützt folglich die These von der Inkompatibilität des naturbegründeten Agierens und der freien Selbstbetätigung des Willens. Siewerth erläutert, dass Thomas mit der Reportage von zwei weiteren Einwänden den gesamten Sichtbereich des argumentativen Scheins durchläuft, der sich aufdrängt, wenn man vom freien Willen spricht und ihn gleichzeitig mit Notwendigkeit auf das Gute bezogen sieht: Gegen diesen Bezug spricht die zeitweilige, frei gesetzte Inaktivität des Willens im Unterschied zu den niemals inaktiven Prozessen des Naturgeschehens. Schließlich vermag der Wille sich auf Entgegengesetztes zu beziehen, was offensichtlich einem unilateralen Bezug auf das Gute widerspricht. Ähnlich äußert sich Pareyson.
Nach Siewerths Einschätzung ist mit diesen Einwänden die Fragestellung im höchsten Maß zugespitzt, was eine entsprechende Spannung auf die Antwort erzeugt. Im sed contra, in dem für den Bezug des freien Willens auf das Gute optiert wird, bietet Thomas einen für seine gesamte Anthropologie wichtigen Hinweis: dass nämlich der Wille der Vernunft folgt. Es ist die Vernunft, die dem Willen die Motive des Handelns vorlegt und dadurch eine Entscheidung ermöglicht. Dieses Nachfolgeverhältnis soll nun auch einen Hinweis auf die zur Diskussion stehende Frage enthalten: Wenn die Vernunft einiges auf naturhafte Weise erkenne, was der Fall sein soll, so müsse dies nicht weniger für den Fall des Willens angenommen werden.
Die Argumente, die Thomas zugunsten seiner These anführt, nach der das Gute der naturale Beweggrund des freien Willens darstellt, fallen auf den ersten Blick fast trivial aus. Mit dem Terminus bonum will er zum Ausdruck gebracht sehen, dass alle Dinge, die existieren, prinzipiell erstrebbar oder begehrenswert (begehrenswürdig) sind. Es geht ihm also nicht darum, neutralen Sachverhalten – unabhängig vom menschlichen Willen – eine moralische Qualität zuzusprechen. Immanuel Kant (1724-1804) weist darauf hin, dass das Gute nur als Qualität des Willens betrachtet werden könne. Und er hat Recht mit diesem Hinweis, wenn unter dem bonum ein bonum morale verstanden wird. Thomas denkt zuerst an das bonum ontologicum, an die Erstrebbarkeit der Wirklichkeit. Selbst das moralisch Böse, das jemand tut, kann nur gewollt werden, insofern es als etwas Erstrebbares erscheint, z. B. das begehrenswerte Geld bei der unsittlichen Tat eines Bankraubs. Dass das Böse immer als Pseudo-Gutes erscheint, soll es nicht moralisch verharmlosen. Um Moral geht es an dieser Stelle der Argumentation nicht, sondern um die Voraussetzung jeder moralischen Beurteilung von Handlungen. Es geht darum, dass mit dem freien Willen ein Bezug auf Erstrebbares oder Begehrenswertes gegeben sein muss. Ein Wille ohne Bezug auf etwas Wollbares stellt für Thomas eine Absurdität dar.
Das Gute begreift Thomas als ein Prinzip des Willens in Entsprechung zu denjenigen Prinzipien der Vernunft, die man der Vernunft nicht nehmen kann, ohne sie selber aufzulösen. Ohne das Kontradiktions- und Identitätsprinzip beispielsweise ist die Vernunft nicht denkbar. Wie erwähnt, verweist Thomas im sed contra auf diese Parallele. Während im sed contra das Nachfolgeverhältnis Verstand – Wille argumentativ zum Tragen kommt, markiert Siewerth auch die Umkehrung des Verhältnisses. Danach beschreibt das prinzipielle Streben nach dem Guten sogar eine Dynamik, die Thomas nicht nur auf das Vermögen des Willens beschränkt; er sieht den ganzen Menschen in allen seinen Kräften durch die Dynamik des Strebens in Bewegung gebracht. Der Bezug der Vernunft auf das Wahre folgt daher einem Streben nach Wahrheit – weil Wahrheit erstrebenswert ist.
DIm zweiten Artikel stellt Thomas mit Nachdruck fest, dass man wollend das Gute nicht nicht wollen kann. Die Freiheit des Menschen ist damit aber nicht aufgehoben, sondern erst ermöglicht: Nur weil es erstrebbare Güter gibt, stellt sich die Möglichkeit der Wahl und Auswahl, zeigt sich die Notwendigkeit, zwischen dem moralisch Guten und dem moralisch Schlechten zu unterscheiden. Selbst dann, wenn jemand seine eigene Freiheit bestreitet, folgt er dabei einem für ihn erstrebenswerten Gut: Er betrachtet die Wahrheit als erstrebenswert, dass Freiheit nur eine Illusion darstellt.
Der Nachweis der Kompatibilität von Willensfreiheit und Bewegtheit des Willens durch das Gute steht selbstverständlich auch im Mittelpunkt der Erwiderungen auf die Einwände.
Siewerth exponiert, wie Thomas den von Aristoteles benannten Gegensatz zwischen Natur und Freiheit, zwischen naturerzwungener und freier Bewegung überwindet. Für den Gegensatz spricht zunächst alles: Der Wille ist dominus sui actus; ein naturhaft Bewegtes ist hingegen gerade nicht Herr im eigenen Haus, kein Subjekt. Siewerth erläutert, dass es diesem Selbstbesitz des Willens dennoch nicht widerspricht, metaphysisch in einer Natur fundiert zu sein und von dieser seine Realität und seine Wirksamkeit, sein Wollen zu empfangen – naturerzwungener Bewegung in der Tat nicht unähnlich.
Auf die analoge Verwendung des Begriffs Natur kommt es Thomas bei seiner Erwiderung auf den ersten Einwand an. Zum näheren Verständnis stellt Siewerth einen Zusammenhang der Entgegnung mit der thomasischen Anthropologie her, mit ihrem vermögenstheoretischen Verständnis des Willens. Als Vermögen der menschlichen Geistseele gehört der Wille zur Natur des Menschen. Weil die Seele sich in ihren Vermögen notwendigerweise entfaltet, gründen der Wille und seine Bewegung in einer Naturnotwendigkeit. Die Willensbewegung ähnelt in dieser Hinsicht anderen naturerzwungenen Bewegungen, obgleich sie sich von diesen radikal unterscheidet. Siewerth macht darauf aufmerksam, dass Thomas in der Erwiderung noch einen Schritt weiter zurückgeht: vom Willen zunächst zur menschlichen Natur, von dort zum ipsum esse. Das Sein bezeichnet den Akt und Konstitutionsgrund der Natur; dank des Seins existiert sie, ist sie aktiv in ihren Vermögen. Indem Thomas Dasein und Wirken von Natur und Willen auf das Gemeinsame des Seins zurückführt, zeigt er Siewerth zufolge die tiefste Einheit dessen auf, was an sich einen Gegensatz darstellt. Sowohl naturerzwungenes Wirken als auch freies Wollen verdanken sich nicht sich selbst, sondern gemeinsam dem Sein. Auch die Handlungen des Willens gründen in einer absoluten Seinsursache, weil sie kontingent sind. Kurz, weder die aufgewiesene Seins- und Naturabhängigkeit des Willens, noch dessen Bezug auf das Gute lösen die Entscheidungsfreiheit auf.
Im zweiten Artikel wird die Thematik der Wahlfreiheit erneut aufgegriffen, erläutert Siewerth. Schon Angesprochenes wird terminologisch präzisiert. Zur Debatte steht, ob ein einzelnes Objekt – das Gute – den Willen so in Beschlag nehmen kann, dass er dabei die Freiheit der Wahl einbüßt. Diese Fragestellung ermöglicht es, den Unterschied zwischen Formal- und Materialobjekt herauszuarbeiten. Die Notwendigkeitsbehauptung über die Beziehung des freien Willens auf das Gute darf nicht als Bezug auf ein einzelnes Materialobjekt missverstanden werden; notwendig bezogen ist der Wille nur auf einen Horizont des überhaupt Erstrebbaren. Das Gute ist ein allgemeines Formalobjekt des Willens. In diesem formalen Horizont erst werden die erstrebbaren Gegenstände als einzelne Objekte erfasst: als variable Fälle und Manifestationen des allgemeinen Guten (bonum in communi). Der erste gegen die Willensfreiheit gerichtete Einwand des zweiten Artikels, so Siewerth, unterschlägt die Unterscheidung zwischen dem formalen und materialen Aspekt, weshalb der Eindruck entsteht, die notwendige Bezogenheit des Willens auf das Gute widerspreche der Annahme der Wahlfreiheit des Willens.
Siewerth kennzeichnet immer wieder das Typische der thomasischen Argumentation: Sie deckt den Schein der Stichhaltigkeit auf, die den Einwänden zukommt, um dadurch den Einsichtsstand zu stabilisieren. Der Schein der Stichhaltigkeit ergibt sich durch mangelhafte Unterscheidungen und Differenzierungen, durch einen zu flächigen Blick auf den Sachverhalt, durch falsche Analogien und Vergleiche. Die Lösungen werden darum oft durch ein Unterscheiden eingeleitet und durch ein besseres Hinsehen auf den Sachverhalt vorangebracht.
Der Horizont des allgemeinen Guten ist durch zwei weitere Merkmale gekennzeichnet: Er ist unbegrenzbar, da die Menge der begehrenswerten Realitäten nicht a priori eingeschränkt werden kann. Dieser Horizont zeigt sich außerdem als unbedingte Größe, weil er die Relativität, Begrenztheit und Bedingtheit dessen kenntlich werden lässt, was im Einzelnen vom Willen angestrebt wird.
Siewerth kommentiert weitere Aspekte der Antwort des Artikels, die trotz bzw. gerade wegen der naturnotwendigen Bezogenheit des Willens auf das Gute dessen Freiheit belegen sollen. Thomas erörtert neben der Wahlfreiheit auch die Vollzugsfreiheit. Die Bewegung des Willens durch das Gute vereitelt Thomas zufolge nicht nur nicht die freie Wahl endlicher Güter, sondern ebenso wenig die freie Entscheidung über die Setzung eines Aktes. Der Mensch verfügt über die Freiheit, nicht zu handeln – vielleicht um über einzelne Gegenstände und ihre Werthaftigkeit zunächst besser nachzudenken. Mehr noch: Thomas gibt zu bedenken, dass der Mensch auch das Nachdenken über die formale Begehrungswürdigkeit der Dinge unterlassen kann. Siewerth erweitert diesen phänomenalen Bestand menschlicher Inaktivität bezüglich des zielgerichteten Nachdenkens und Wollens noch, indem er die anthropologischen Phänomene der Zerstreuung, Erholung und des Schlafes anführt, also Phänomene und Merkmale der leiblichen Existenz des Menschen. Mit dem Verweis auf die naturbedingte, unbewusst und bewusst herbeigeführte Inaktivität und Indifferenz des Willens würde sich nochmals ein Spielraum eröffnen, der durch die Bezogenheit des Willens auf das Gute nicht eingeschränkt wird. In ihrem Bezug auf das allgemeine Gute ist die Freiheit zuerst eine transzendentale Größe.
In seinem Kommentar nimmt Siewerth seine Überlegungen zur Inaktivität des leibgebundenen Willens zum Anlass, um auf ein Manko der scholastischen Willensphilosophie aufmerksam zu machen. Selbst bei Thomas, aber erst recht in der Neuscholastik werde viel zu wenig die Eingründung des Willens in die leiblich-geistige Natur des Menschen bedacht und deswegen die Potentialität des Willens nicht hinreichend konzeptionell gewürdigt. Würde man jedoch die Materialität und Leiblichkeit des Willens in Betracht ziehen, könnte prägnanter erfasst werden, wie sehr die Aktivität des Willens durch eine soziale und kosmische Dimension geprägt ist, durch die das allgemeine Gute mediatisiert wird. Der freie Wille – „der Herr der eigenen Akte“ – wäre im Ursprung als verbunden gedacht mit der Empfänglichkeit des Willens für Andersheit. Siewerth führt seine eigenen Studien zur „Metaphysik der Kindheit“ (1957) und seine erziehungsphilosophischen Schriften über Reife und Begabung („Wagnis und Bewahrung“ 1964) an, in denen er die Disponierung des Willens zu eigenverantwortlichem Handeln durch das Engagement von Eltern und Pädagogen thematisiert und eine entsprechende Verantwortung der beteiligten Personen vor Augen stellt.
Die Potentialität der geistigen Vermögen des Menschen begreift Siewerth aber nicht nur als Folge ihrer materiell-leiblichen Einbindung; hinter diesen anthropologischen Überlegungen stehen ontologische. Den angesprochenen Primat des ipsum esse gegenüber der Natur dehnt er aus zum Primat des Seins schon gegenüber der Form, die die Natur definiert und im Fall des Menschen mit der Geistseele identifiziert wird. Zwar rezipiert Thomas die aristotelische Metaphysik mit ihrer These, nach der die Form das Sein gibt (forma dat esse), so dass durch die Form ein Seiendes existiert, dessen Materie die Form trägt. Doch Siewerth positioniert diese These im Kontext der Ontologie des Thomas: Die Form bewirkt keine Seinskonstitution in eigener Souveränität, sondern unter der Hegemonie des Seins als Akt, das nach Maßgabe des Wesens eines Seienden rezipiert und partizipiert wird. Die ontologisch exponierte Potentialität der Form verlangt Siewerth zufolge ihre anthropologische bzw. erkenntnismetaphysische Applikation. Danach muss die Rezeptivität der Seelenvermögen nicht nur auf ihre leiblich-sinnenhafte Ausgangsbasis, sondern auch auf ihre geistig-aktive Seite bezogen werden: Der intellectus agens operiert nicht in völliger Souveränität, sondern dank des Seins. Dessen Aktualität und Intelligibilität ermöglichen und aktuieren durch die Wesensform der Geistseele den Intellekt als aktive Erkenntniskraft. Diese subjektive Seite der Aktuierung des Verstandes setzt Siewerth in ein Verhältnis zu ihrer objektiven: Das Licht des Intellekts wird erst durch die Begegnung mit Seiendem, zuerst mit dem Du, entzündet, dessen Akt und Intelligibilität das Sein ist. Durch das Seiende und den Akt des eigenen Daseins ist der Verstand also auf das Sein im Allgemeinen bezogen. Für den freien Willen gilt analog das Gleiche: Das Sein ist die Vermittlung des Guten als Freiheitsprinzip (subjektiv), indem es den Willen in dessen Begegnung mit einzelnem Seienden über dieses konkrete Seiende hinaus auf seine Allgemeinheit hin bewegt.
Festzuhalten bleibt, dass Siewerth die thomasische Freiheitstheorie ontologisch letztbegründet sieht; die Endlichkeit, Passivität, Rezeptivität sowie die Souveränität und Aktivität des freien Willens werden vom Sein aus erschlossen. Siewerths ontologische Ausweitung seiner Thomas-Kommentierung ist typisch. Die ontologische Präsentation der Freiheitsthematik soll diese von der Mitte des thomasischen Denkens aus systematisch erschließen. Siewerth verfolgt seit dem Anfang seiner philosophischen Studien, paradigmatisch mit seiner Habilitationsschrift „Thomismus als Identitätssystem“ (1939, 2. Aufl. 1961), den Gedanken, das von ihm summarisch genannte Denken des Thomas zu „systematisieren“, d.h. in Anlehnung an den Systemgedanken Georg Wilhelm Hegels (1770-1831) von einer inneren Mitte aus zu erschließen. Siewerth opponiert mit seinem Ansatz nicht zuletzt gegen eine neuscholastische Rezeption der thomasischen Philosophie und Theologie, die sich seiner Einschätzung nach immer wieder damit begnügte, nach Thomas-Zitaten zu fahnden, um sie für die Konstruktion eines Lehrgebäudes aufzubereiten, in dem aber die innere seinsphilosophische Mitte des thomasischen Denkens verborgen blieb.
Die Ontologie, die Siewerths Kommentar bestimmt, ist zu explizieren. In dieser Ontologie soll sowohl (1) die Objektivität des Guten als auch (2) die Verbindung des Willens mit der erstrebbaren Realität ihre Grundlage finden.
(1) Das Sein des Seienden begründet das Gutsein dessen, was ist, auch unabhängig vom menschlichen Willen. Genauso besitzt das Sein von sich aus die Qualität der Erkennbarkeit. Freilich stellt sich die Frage, woher man das weiß. Siewerth wendet sich in seinen Schriften gegen die (nominalistische) These, dass der Wille, der strebt, die Dinge mit dem Attribut Erstrebbarkeit etikettiert. Dennoch bestreitet Siewerth keineswegs, dass das subjektunabhängige Wahr- und Gutsein der Dinge unentdeckt und inaktiv bleibt, wenn nicht ein menschlicher Geist auf erkennbare und werthaltige Realität trifft. Ohne den Menschen kommen diese Eigenschaften als aktiv erfasste und gelebte innerhalb der Schöpfung nicht vor. Eine Welt, die nicht als wahre und gute erscheinen kann, wäre objektiv ärmer, unvollkommener; als Welt würde sie gar nicht existieren. Sie wäre nicht durchsichtig auf ihre Herkunft aus dem göttlichen Erkennen und Wollen. Insofern gibt es sozusagen von der Realität selbst her ein „Interesse“ am Geist des Menschen, an der „Symbiose“ des Guten und des freien Willens.
(2) Die Ontologie bietet Siewerth die Theorieform, um die Wirklichkeitsverwobenheit des zuerst rezeptiv gedachten Willens (und Erkennens) zu begründen. Läge die kognitive und voluntative Aktivität des Menschen exklusiv auf der Seite des Subjekts, wäre nicht glaubhaft zu machen, dass sich der Mensch im Erkennen und Wollen transzendiert und anderes in seiner irreduziblen Andersheit berührt; er könnte ganz im Bannkreis seiner Subjektivität und der eigenen Projektionen vom anderen verbleiben. Wenn jedoch im Begehren des Willens ein ursprünglicher Kontakt mit der begehrenswerten Realität wirksam ist, indem die Realität kraft ihrer Werthaftigkeit den Willen erweckt, dann empfängt und erfasst das Wollen auch den Wert des Anderen und kann sich für ihn engagieren. Einen strikten Beweis für dieses Zueinander von Geist und Sein bietet Siewerth nicht. Ein derartiger Beweis würde seiner Auffassung nach nämlich voraussetzen, dass sich der Mensch dabei zusehen kann, wie das Zueinander von Geist und Realität zustande kommt – oder auch nicht. Diese Zuschauerposition sich selbst gegenüber vermag der Mensch selbstverständlich nicht einzunehmen. Der Mensch scheitert Siewerth zufolge ebenso bei dem Vorhaben, von sich als Subjekt ausgehend anhand von subjektgenerierten Begriffen die Bezogenheit auf die Realität zu beweisen, da die dabei anvisierte Realität und die Einheit mit ihr nicht den Status des Gedankens und „Ausgedachten“ überwindet. Vielmehr müssen die Begriffe in ihrem Ursprung schon realitätsbezogen sein, wenn sie etwas über die Wirklichkeit aussagen sollen. Auch eine strikte Trennung von Subjektivität und Objektivität bleibt für Siewerth eine aporetische Annahme, weil die Erkenntnis eines radikalen Unterschieds zwischen beiden eine Bekanntheit der objektiven Seite voraussetzt und insofern zumindest eine allgemeine Einheit von Subjektivität und Objektivität präsupponiert. Im Sinn eines apagogischen Beweises bleibt nach Siewerth nur die Annahme einer primordialen Offenheit des Geistes für das Sein, da alle anderen begründungstheoretischen Positionen prekärer sind. Der Mensch erfahre sich in seinem geistigen Ursprung als apriorische Offenheit für sich ihm zuspielende Realität.
In der „Metaphysik der Kindheit“ erläutert Siewerth das Erwachen des Geistes durch den Zuspruch des Seins. Er dechiffriert dabei das Sein als Liebe. Dieser Seins-Zuspruch realisiert sich durch die Eltern, in Gestalt ihrer Zuwendung an das Kind. Das Vertrauen in die Wirklichkeit und in die eigene Wahrheitsfähigkeit wird dadurch grundgelegt. Siewerth will mit dieser Personalisierung und Ethisierung des „neutralen“ Gutseins nicht behaupten, dass der Verstand seine Wahrheitsfähigkeit einbüßt, sobald lieblose Menschen an der Wiege eines Menschen stehen. Abstrakt gesprochen reicht die Begegnung mit dem Seienden, das dem Menschen in seiner Wahrheit und Gutheit erscheint. Aber als Pädagoge bleibt er bei einer abstrakten Betrachtungsweise nicht stehen.
Die Personalisierung der Begegnung des Seins und die Auslegung des Seins als Liebe erschließen außerdem in überzeugenderer Weise den Sinn eines epistemologischen Realismus. Im Ereignis der Liebe nämlich bemühen sich Menschen darum, einander so zu erscheinen, wie sie sind, und den Anderen möglichst so zu erkennen, wie er sich zu erkennen gibt. Liebe ohne gegenseitiges Wahrwerden, Erkennen und Erkanntwerden gibt es nicht. Gelingende Kommunikation und gelebte Liebe präsentieren sich nach Siewerth daher als Indizien für ein ursprüngliches Erfassen der Realität, mithin für eine differenzierte Einheit von Sein und Geist und die Wahrheitsfähigkeit des Menschen.
Um dieser Offenheit für das Seins erkenntnismetaphysisch und willenstheoretisch gerecht zu werden, setzt Siewerth einen intuitus entis an den Anfang allen Erkennens. Das Begreifen hebt also nicht mit Begriffs- und Urteilsbildung an. Am Anfang des Erkennens ereignet sich vielmehr eine vorbegriffliche gesamtheitliche Erfassung der Wirklichkeit überhaupt. Vergleichbar ist dieser Seinsintuitus mit dem intuitiven Eindruck, den man bei einer ersten Begegnung mit einer anderen Person gewinnt. Nachträglich erst erfolgt das begriffliche Erfassen ihrer Eigenschaften, das den ursprünglichen Eindruck jedoch niemals ausschöpft. Dank des intuitus entis ist der Wille ursprünglich und unmittelbar geöffnet für das Gute im Allgemeinen, aber auch für den konkreten Wert von Andersheit. Das durch den Intuitus möglich werdende Engagement für den Anderen begreift Siewerth als Definition des freien Willens: Er ist ekstatische Eksistenz auf das Gute hin.
Im Zentrum der Ontologie Siewerths, die das thomasische Denken systematisiert, steht zweifellos der bereits erwähnte Seinsakt (actus essendi). Dessen Verständnis umfasst ebenso Siewerths Justierung des Verhältnisses von Offenbarung/Theologie und Philosophie.
Siewerth erläutert, dass das Gute im Allgemeinen, auf das sich der Wille bezieht, weder einen bloßen Begriff darstellt, mit dem die Erstrebbarkeit der Wirklichkeit etikettiert wird, noch einen vom Menschen gesetzten unbegrenzten Horizont seines Willens. Das bonum in communi koinzidiert ebenso wenig mit Gott. Im formalen Gutsein erkennt Siewerth den Seinsakt, der allem Seienden Realität verleiht. Nur als Realität ist ein Seiendes ein erstrebbares Gut. Das Nichtsein stellt hingegen keine erstrebbare Größe dar. Aber auch kein Wesen ist erstrebbar, wenn es nicht existiert. Da das Wesen aber über das Maß entscheidet, in dem das Seiende am Seinsakt teilhat, entscheidet es auch über die Attraktivität des Seienden: Je mehr und intensiver etwas wirklich ist, desto begehrenswerter ist es. Als Seinsakt alles Seienden ist dieser Akt notwendigerweise allgemein und einfacheinheitlich. Als wirklichkeitsvermittelnder Akt muss er jedoch mehr sein als ein bloßer Allgemeinbegriff. Auf das Wesen einer Entität hin kontrahiert sich der Seinsakt; er ist der Akt dieses konkreten Seienden. Kontraktion und Division des Seins lösen es dennoch nicht in seiner Allgemeinheit und Einfachheit auf, weshalb ihm Siewerth das Attribut der Vollkommenheit zuspricht. Er bezeichnet es als überwesenhaft, weil es nicht auf- und untergeht in den Wesenheiten, sondern sie transzendiert.
Doch diese Transzendenz des Seins führt in einen merkwürdigen Widerspruch, dessen Auflösung für Siewerth zur entscheidenden Gotteserkenntnis wird. Widersprüchlich zeigt sich das Sein als vollkommener und einfacher Akt der Dinge, weil er ihnen Dasein verleiht, aber selbst nicht für sich außerhalb der Dinge existiert. Das Prinzip der Realität scheint selber irreal zu sein. Siewerth beruft sich auf Thomas, der den widersprüchlichen Charakter des Seins formelhaft festhält: Esse significat aliquid completum et simplex, sed non subsistens (De pot. 1, 1.). Bei dem Widerspruch eines „nichtigen Seins“ könne das Denken jedoch nicht stehen bleiben, gibt Siewerth zu bedenken. In seiner „irrealen Haltlosigkeit“ weist der actus essendi über sich hinaus: auf den transzendenten Grund allen Seins, der durch sich existiert. Er ist der göttliche Quell des Seins. Das Sein als Akt gibt in seiner „Nichtigkeit“ nicht selbst das Dasein; es ist die Gabe des Daseins und verweist so auf den Geber seiner selbst, von dem die Existenzaussage uneingeschränkt gelten muss. So gibt der Seinsakt kraft seiner überwesenhaften Einfachheit, seiner Daseinskonstituierung und widersprüchlichen Irrealität den göttlichen Geber aller Wirklichkeit zu erkennen. Siewerth bezeichnet das „Sein als Weg zu Gott“6. Es ist in seiner Einfachheit, Aktualität und Vollkommenheit ein Gleichnis Gottes, wegen seiner Nichtsubsistenz aber auch Gottes Ungleichnis. Kraft seiner „widersprüchlichen Doppelnatur“ lenkt das Sein das Denken auf den Schöpfer. Ihn versteht Siewerth als Inbegriff des Seins, d.h. Gott ist die Allgemeinheit, Einfachheit und Vollkommenheit des Seins in höchster, nämlich geistig-personaler Konkretion. Gott ist die Einheit der Realität bzw. Subsistenz und der Aktualität des Seins.
Für das Verständnis des Gutseins folgt aus dieser Ontologie nochmals: Das formale Gutsein des Wirklichen stellt keinen für sich realen Bezugspunkt des Strebens dar, sondern eine Bestimmung des Seienden (oder – epistemisch: einen Horizont), der unmittelbar über sich hinausweist auf das göttliche summum bonum. Das Streben wird folglich nicht durch eigene Projekte und Projektionen, sondern durch das Gutsein der Dinge auf die reale Quelle des Gutseins hin bewegt.
Die Seinsbestimmungen der Realität oder Subsistenz verbindet Siewerth mit dem aristotelischen Konzept der Ersten Substanz, des konkret existierenden, mit sich identischen, nicht von anderen unmittelbar abhängenden Seienden. Er hebt in seinem Kommentar anhand dieses Konzepts darauf ab, dass das Streben keinem bloßen Spiel der Kräfte folgt; dass das Zentrum des Handelns kein zufälliges akzidentelles Konglomerat darstellt; dass vielmehr Streben in der substantialen Identitätsmitte einer Sache gründet, in deren „Subjektivität“. Thomas grenzt sich von allen Auffassungen ab, die die substantiale Eigenwirklichkeit und zielorientierte Eigenwirksamkeit einer Realität mindern. Er setzt sich ab von Vorstellungen, die das Seiende zu einem Epiphänomen des göttlichen Seins machen, die mithin besagen, wirklich und allein gut sei nur Gott, darum seien alle Wesen nur gut durch die unmittelbar in ihnen präsente göttliche Güte. Das Sein der Dinge ist aber nicht Gott. Sie haben und sind ein eigenes konkretes Sein: Sie sind ihre Substanz. Diese macht erstrebenswert und fähig zum Streben. Auch gegenüber der platonischen Vorstellung von der abgeschatteten Teilhabe an der Idee des allgemeinen Guten mobilisiert Thomas den Gedanken des substantialen Selbststandes der Dinge, dessentwegen sie gut sind.
Siewerth bietet eine letzte Vertiefung seiner ontologischen Reflexion durch ihre trinitätstheologische Konturierung, die er vor allem in den 1950er Jahren forciert7. Die Einheit von Akt und Subsistenz in Gott versteht er gemäß der trinitätstheologischen Terminologie, nach der die drei göttlichen Personen die Subsistenz (Realität) des actus purus, der reinen Aktualität, des göttlichen Wesens sind. Diese trinitätstheologische Auslegung der Seinsdifferenz oder ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem erlaubt Siewerth, die vielfache Subsistenz (Realität) des einen Seinsaktes in Gestalt der Mannigfaltigkeit des Seienden als ein Gleichnis der dreipersonalen Subsistenz des einen göttlichen Aktes zu dechiffrieren. Hinter diesen Überlegungen steht Siewerths Anliegen, die Positivität der endlichen Wirklichkeit zu denken. Indem Siewerth mit der Urdifferenz des Seins weder die Differenz zwischen Sein und Wesen noch die Differenz zwischen Akt und Potenz identifiziert, sondern diese Urdifferenz in der Differenz zwischen Akt und Subsistenz erkennt, beansprucht er, diese Positivität der Wirklichkeit ontologisch zu akzentuieren. Denn die beiden zuerst genannten Differenzen, also die Differenz zwischen Akt und Wesen sowie die Differenz zwischen Akt und Potenz, drücken eine Begrenzung des Seins aus. In begrenzter Weise stellt ein endliches Wesen die Fülle der Wirklichkeit dar; Potenzen eines Seienden bestimmen die Aktualität des Seins auf sich, auf ihr begrenztes „Aktuierungsbedürfnis“ und nicht auf „alles“ hin. Um deutlich zu machen, dass bei der endlichen Wirklichkeit aber nicht zuerst ihre Begrenztheit im Zentrum ontologischer Betrachtung steht, sondern ihr Wirklichsein selbst, stellt Siewerth die Differenz in den Vordergrund, die nicht unmittelbar eine derartige Begrenzung ausdrückt. Das Endliche interessiert ontologisch nicht zuerst wegen seines Begrenztseins, nicht hinsichtlich dessen, was es nicht ist oder nicht kann, worin es sich von anderem unterscheidet; es interessiert zuerst, weil es da ist, existiert. Diesen Primat des Daseins und konkreten Existierens fasst Siewerth terminologisch mit dem Begriff der Subsistenz.
Auf die Thematik des Guten bezogen bedeutet dies: Die Mannigfaltigkeit des Guten stellt so wenig wie die Pluralität des Seienden einen „Abfall“ vom höchsten Gut und Seienden dar. Man muss auch nicht am endlichen Seienden vorbei oder über es hinaus das höchste Gut suchen; vielmehr rührt man im endlichen Seienden an den göttlichen Grund des Seins, des Wahren und Guten. Siewerth geht so weit zu sagen, dass die endliche Realität als Gleichnis des ungeschaffenen Gottes die Spur des Ungeschaffenen trägt. Insofern spiegelt vor allem die menschliche Person in ihrem Sein etwas Unbedingtes und Absolutes wider, so dass das moralische Verhalten zum Anderen ein Verhalten zu Gott ist.
Siewerth kommentiert Thomas im Ausgang von seiner thomasischen Metaphysik, die er als theologische oder theologiebestimmte klassifiziert. Er geht ontologisch über die Philosophie hinaus, um offene Enden einer philosophischen Ontologie auf ein weiterführendes Lösungspanorama aufmerksam zu machen. Da die christliche Offenbarung nicht sozusagen jenseits, sondern diesseits des Seins anzusiedeln ist (jenseits des Seins „ist“ nur nichts), kann sie nach Siewerths Überzeugung zur Seinsdeutung beitragen. Das Denken kennt keine apriorischen Grenzen (außer dem „Nichts“); es gibt keine prinzipiell unzugänglichen Bereiche des Seins. Deshalb ist für Siewerth die Entfaltung einer trinitarischen Ontologie durchaus möglich, während sie Thomas als philosophische Disziplin nicht kennt. Allerdings kann man geltend machen, dass der Offenbarung auch nach thomasischen Prinzipien eine ontologische Relevanz zukommt. Deren systematische Umsetzung fällt allerdings meistens der Theologie zu – was nicht ausschließt, dass zumindest einzelne offenbarungstheologisch vermittelte Einsichten genuin philosophisch rekonstruiert werden können, wie etwa die Personalität oder die Würde des Menschen.
Für den Philosophiehistoriker steht fest10, dass das Christentum zu einer positiven Würdigung der Realitätsmerkmale „Differenz“, „Vielheit“ und „Kontingenz“ sowie der menschlichen Person geführt hat. Die angeführten Merkmale des Wirklichen wurden oft als defiziente Seinsformen beurteilt, die menschliche Person nur als wiederholbares Exemplar der Gattung oder Idee „Mensch“. Manche Thomasexegeten, zu denen ebenso Siewerth zu rechnen ist, erweitern darum die Reihe der Transzendentalien des Seins (unum, verum, bonum, pulchrum) um die des diversum und aliud. Für Siewerth gehört zu den Seinsbestimmungen auch die Bestimmung der Liebe, welche wiederum die unaufhebbare Differenz der aufeinander Bezogenen voraussetzt. Angesichts der ontologischen Relevanz des jüdischchristlichen Schöpfungs- und Offenbarungsglaubens wundert es nicht, dass trinitarische Ontologien entwickelt wurden:
Siewerth bekannt war die trinitarische Ontologie von Clemens Kaliba (1902-1979)12. Innerhalb der Theologie greift insbesondere Hans Urs von Balthasar (1905-1988) auf Siewerths Ontologie zurück, um eine trinitarische Ontologie zu entfalten.
Der Regensburger Philosoph Ferdinand Ulrich (*1931) forciert im gedanklichen Anschluss an Siewerth sogar eine inkarnationschristologische Ausprägung der Ontologie; er orientiert sich am (vor-)paulinischen Gedanken der Kenosis des Logos (Phil 2,6-11) und dechiffriert in der Bewegung des für sich nicht realen Seinsaktes zur Realität bzw. Subsistenz hin eine Bewegung der Entäußerung, der sich hingebenden Liebe14. Ähnlich formulieren Balthasar und andere15. Die trinitätstheologischen und christologischen Vertiefungen der Seinsdeutung profilieren das Sein nicht nur als Erstrebbarkeit, bonum, sondern als Güte und Liebe. Für die von Thomas aufgeworfene Frage ergibt diese „amorologische“ Fortführung des „neutralen“ bonum: Wenn das Sein als Liebe den bewegenden Grund der Freiheit darstellt und Liebe ohne Freiheit undenkbar ist, dann wird noch deutlicher, dass das Bewegtwerden der Freiheit durch das Sein keinem Diktat gleicht, sicherlich aber einer verlockenden Einladung. Aber auch ausgehend vom „neutralen“ Guten ergibt sich die gleichlautende Einsicht: Eine Diktatur des Guten würde das Gute auf das Maß des instinkthaft Angestrebten reduzieren. Nur im Licht wirklicher Freiheit leuchtet das Gute in seiner höchsten Form auf: dass das Gute um seiner selbst willen erstrebt und gewollt werden kann. Das um seiner selbst willen interessante Gute ist vor allem der Mitmensch, der, so I. Kant, Zweck für sich selber ist.
Siewerth unterschlägt nicht den strikt theologischen Standpunkt, von dem aus Thomas die Frage nach der notwendigen Bezogenheit des Willens auf das Gute philosophisch behandelt. Im Unterschied zu Siewerth, so wurde schon deutlich, legt Thomas größeren Wert auf eine epistemologische Unterscheidung zwischen philosophischem und theologischem Argument. Trotz der offenbarungstheologischen Finalität aller Überlegungen beansprucht Thomas um der Rationalität des Glaubens willen, genuin philosophische Verbindungslinien von der Vernunft zu den Glaubensinhalten zu ziehen. Man unternimmt es deshalb, aus seinem theologischen Werk eine philosophische Metaphysik zu erheben und für sich darzustellen16. Zum Verständnis des theologischen Standpunkts, der für die von Siewerth kommentierten Artikel relevant ist, sei an das bekannte Schema erinnert, das dem Aufbau der Summa Theologiae zugrundeliegt. Thomas behandelt – entsprechend einem neuplatonischen und zugleich biblischen exitusreditus-Schema – im ersten Hauptteil Gott, den Einen und Dreifaltigen, sowie die aus ihm hervorgehende Schöpfung. Im zweiten Hauptteil stellt er die Rückkehr des Menschen in seinen göttlichen Ursprung dar, indem er die göttlichen und menschlichen Akte erläutert, die dazu notwendig sind. Im dritten Hauptteil folgen Christologie und Sakramentenlehre, da der menschgewordene Sohn selbst der Rück-Weg zum Vater ist, kirchlich vermittelt durch heilswirksame Verkündigung und Sakramente.
Zu Beginn des zweiten Hauptteils, zu dessen Anfang man die von Siewerth kommentierten Artikel noch rechnen kann, präzisiert Thomas das Ziel der Rückkehr des Menschen zu Gott: die beatitudo in der eschatologischen Gottesanschauung. Den theologischen Terminus beatitudo übersetzt Thomas ins Metaphysische mit dem Terminus bonum perfectum. Dass das eschatologische Ziel des Menschen die beseligende Gottesanschauung sein soll, ist genuiner Offenbarungsinhalt; dass aber alles Streben auf ein bonum perfectum ausgerichtet ist, lässt sich philosophisch plausibel machen. Das philosophische Argument dient mithin dem Rationalitätsgewinn offenbarungstheologischer Affirmationen, indem es, wie in diesem Fall, einen hermeneutischen Raum schafft, innerhalb dessen das für den Menschen Unzugängliche für den Intellekt zugänglich wird. Diese philosophische Vermittlung umfasst zuerst den Aufweis der Akte, die zum Ziel der beseligenden Gemeinschaft mit Gott hin- bzw. davon wegführen. Es muss sich dabei um Akte handeln, die generell in bewusster Weise auf ein Ziel ausgerichtet sind oder deshalb auch von einem Ziel abweichen können. Das sind die freien Akte des menschlichen Willens. Diese Willensakte unterscheiden sich durch ihre Freiheitlichkeit vom Streben aller anderen Lebewesen; diese streben notwendigerweise und im Prinzip auch erfolgreich nach dem Ziel, das ihnen durch ihre Natur vom Schöpfer (in evolutiver Vermittlung) vorgegeben ist (appetitus naturalis). Nur dem Menschen ist als Ziel Gott selbst vorgegeben. Aber was heißt das?
Siewerth streift in diesem Zusammenhang die komplexe Frage, wie genau die Finalbestimmung des Menschen zu begreifen sei: auch als Bestimmung seiner Natur? Die Frage stellt sich angesichts der offenbarungstheologischen Qualifikation der beatitudo; sie übersteigt die Natur des Menschen und entzieht sich somit seiner Verfügbarkeit. Sie ist Geschenk, Gnade. Kann der Menschen von Natur aus, also mit Notwendigkeit, auf etwas bezogen sein, das sich jeder Notwendigkeit entzieht und freies Geschenk ist, selbst wenn man es philosophisch noch unter dem Terminus des vollkommenen Guten fassen kann?
Siewerth referiert die neuscholastische Antwort auf diese Frage und spart dabei nicht mit Kritik. Nach dem neuscholastischen Vorstellungsmuster ordnet man der Natur des Menschen natürliche Ziele zu. Die Gnade setzt man hingegen über diese Naturordnung; die Gnade bildet eine übernatürliche Ordnung mit ihrem naturtranszendenten Ziel. Diese strikte Trennung von Natur und Übernatur entzieht einer theologischen Darstellung des geoffenbarten Ziels nicht nur einen theoretisch nachvollziehbaren anthropologischen Anknüpfungspunkt; der Gnade wird auch jede existentielle Erfahrungsgrundlage entzogen: Übernatürliche Gnade kann im Horizont menschlicher Erfahrung nicht vorkommen und nicht auf ihre eschatologische Vollgestalt aufmerksam machen. Infolgedessen drohen Glaube und religiöses Leben zu etwas Aufgesetztem ohne lebensweltliche Resonanz zu werden. Siewerth setzt dieser fatalen Naturauffassung und Gnadenkonzeption eine Thomas-Auslegung entgegen, die den historischen Forschungsergebnissen der Nouvelle Théologie der 1940er Jahren entspricht. Danach ist der Mensch auf die beseligende Gottesanschauung hin geschaffen. Schon die Handlungstheorie Maurice Blondels (1861-1949; „L’Action“ 1893) kam zu einem sachlich gleichlautenden Resultat: Der Mensch ist der Offenbarung absolut bedürftig, aber sie ist genauso absolut unerreichbar für ihn.
Im Sinne Siewerths ist festzuhalten: Die transzendentale Bezogenheit des Menschen auf eine übernatürliche Offenbarung und Gnade erwächst aus dem Streben des Menschen nach grenzenloser, unendlicher Erfüllung, die nur mit einer unbedingten Zuwendung Gottes identisch sein kann, mit Gottes Offenbarung. Dieses Streben erlebt der Mensch im Rahmen seiner Natur. Denn, wie erläutert, ist das menschliche Streben durch seinen Bezug auf das Gute formal unbegrenzt, so dass nur ein unbegrenztes Gut (Materialobjekt) der formalen Ausstattung des Willens ganz entspricht. Dieses unbegrenzte Materialobjekt stellt folglich das eigentliche Ziel des freien Willens dar: Gott als summum bonum. (Analoges lässt sich über das Erkennen als Streben nach der letzten Wahrheit sagen.)
Thomas spielt eigens alle Möglichkeiten durch, die als ein alternatives definitives Ziel des Menschen reüssieren könnten: Ehre, Ansehen, Macht, körperlicher Gesundheit, Wohlergehen, geistige Güter. Aber diese Güter sind begrenzt; sie erfüllen zwar das Streben des Menschen, jedoch nicht im höchsten Maß. An sich selber kann der Menschen also erproben, dass ihm nur qualitativ Unbegrenztes genügt: nur Gott allein. Diese notwendige Ausrichtung des Menschen auf Gott sabotiert aber nicht die Theologie von der freien, „ungeschuldeten“ Gnade. Die Freiheit der Gnade ist schon um des Menschen willen zu postulieren. Denn ein sich dem Menschen sozusagen notgedrungen zuwendender Gott wäre in seiner Zuwendung nicht mehr frei; Gott wäre in dieser Hinsicht begrenzt und endlich – ein endlicher Gott. In diesem Fall würde Gott dem Menschen aber nicht mehr das bieten können, was diesem allein genügt. Dem Freiheitswesen Mensch entspricht nur ein Ereignis der Freiheit – das gilt für den zwischenmenschlichen Bereich nicht weniger als für das Gottesverhältnis.
Fazit: Stringent philosophische Bemühungen sprechen für den naturnotwendigen Bezug des Menschen auf Gott, das höchste Gut; offenbarungsgestützte Philosophie gelangt mit philosophischen Mitteln zu der Einsicht, dass das vollkommene Gut des Menschen in der Selbstzuwendung des höchsten Gutes als Güte und Liebe besteht.
Siewerth wendet sich mit seinem Kommentar des dritten Artikels der Frage zu, ob der Wille mit Notwendigkeit durch die inferiore Strebedynamik der menschlichen Natur bewegt wird. Theologische, anthropologische und erkenntnismetaphysische Argumente, die Thomas aufbietet, schreiten nach Einschätzung Siewerths den Radius entsprechender Einwände gegen die Existenz der Willensfreiheit ab. Zugunsten der These von einer Machtlosigkeit des Willens gegenüber dem spontanen Begehren bietet Thomas zuerst einen hamartiologischen Einwand auf: Paulus schildert im Römerbrief (7,14-24) die bittere Erfahrung einer inneren Zerrissenheit des Menschen; diese wurzelt in der heilsgeschichtlichen Herkünftigkeit des Menschen von Adam. Die erbsündlich bedingte Konkupiszenz diktiere, im Gegenzug zur eigenen Intention Hassenswertes zu tun. Im zweiten Einwand lässt Thomas Aristoteles zu Wort kommen mit dem Hinweis auf die Artung von Menschen. Diesen Artungen gemäß soll den Menschen jeweils ein bestimmtes Ziel des Handelns entsprechen. Bei entsprechender Artung würde ein Mensch durch die auf ein bestimmtes Ziel eingespielten Leidenschaften die Freiheit seines Willens unweigerlich verlieren. Im dritten Einwand wird die erkenntnismetaphysische Einsicht in die sinnenhafte Vermittlung des Erkennens und Willens zum Ausgangspunkt des Einwands: Diese Vermittlung der Erkenntnis durch die Sinne liefere den Willen unabwendbar der sinnlichen Leidenschaft aus und erzwinge notwendiges Handeln.
In der Gegenwart würde man vor allem neurologische und psychische Defekte als Gründe für die Einschränkung freier Selbstbestimmung namhaft machen oder ein Handlungspotential, das einer Entscheidung vorausgeht und diese unumgänglich evoziert. Im sed contra bestätigt ein Schriftzitat die Vorstellung vom freien Regiment des Menschen über sein Streben.
Siewerths Kommentar der Antwort verweist insbesondere auf die von Thomas entwickelte Vermittlungsinstanz des Verstandes, mit der ein Einwirken der Sinne auf den Willen geklärt werden soll. Es sei nämlich darzulegen, wie die Sinne überhaupt auf das geistige Vermögen des Willens einwirken können, da eine Einwirkung des Sinnlichen auf das andersartige und höher stehende Geistige als nicht möglich erscheint. Die Einwände setzen jedoch unreflektiert eine schlichte „Kontinuation“ von sinnlichen Impulsen in den Bereich der Willenshandlungen voraus. Ein sinnenbedingtes Versagen des Willens kann nur im Blick auf den sinnenbezogenen Verstand einsichtig werden. Der Verstand, verbunden mit den Sinnen, präsentiert den begehrenswerten Gegenstand. Diese Präsentation kann der Verstand jedoch nochmals besonders formatieren, und zwar auf eine Neigung der Strebekräfte hin, die schon besteht. Der Verstand stellt den Gegenstand als einen vorzüglich zu dieser oder jener Inklination passenden Wert vor und rät dem Willen zum Zuschlag. Doch der auf diese Weise operierende Intellekt verfällt einem Trugschluss; er rät zur Wahl eines bestimmten Gegenstandes, weil er selbst bereits in Leidenschaften gefangen ist. Der Verstand rät z. B. zum Kauf von immer mehr Alkohol, weil dieser Gegenstand zu einer schon bestehenden falschen Neigung, z. B. zum Alkoholismus, passt. Das Fehlverhalten des Willens hat folglich seinen Grund in einem Fehlurteil des Verstandes. Dennoch zwingt der Verstand den Willen nicht in einer mechanischen Weise zur Zustimmung und Umsetzung. Die Differenz der geistigen Vermögen – Verstand und Wille – verhindert Thomas zufolge derartige Automatismen, wenngleich einzuschränken ist: zumindest im Prinzip.
Thomas räumt nämlich ein, dass der Mensch Opfer von Gefühlsregungen und entfesselten Impulsen zu werden vermag, die zuerst den Verstand ausschalten und sodann zu seinem triebhaften Handeln verführen, bei denen eine eigentliche Zustimmung des Willens nicht mehr zu erkennen ist. Aber es handelt sich dabei um Ausnahmen, man könnte sagen: um krankhafte Erscheinungen, um Wahnsinn. Die Ausnahme bestätigt die Regel: Siewerth hebt hervor, dass Thomas in den geistigen Vermögen des Menschen immer eine Offenheit für geistige Gründe, für Moralität, erkennt, selbst dann, wenn Ursachen im Menschen ein fast mechanisches Tun des Falschen erzwingen wollen. Der Verstand (des Alkoholikers) weiß um die Falschheit seines Urteils, der Wille opponiert gegen das erzwungene Tun, auch wenn er unterliegt.
Von dieser zumindest intentionalen Distanz zum eigenen und zugleich fremddiktierten Handeln geht nach Thomas‘ Einschätzung auch Paulus aus: Der Mensch weiß darum, dass er etwas tut, was er nicht will, was er sogar hasst. Schlussfolgerung: Die Freiheit wird in ihrer transzendentalen Dimension weder durch sinnenhaft vermittelte Gegenstände noch durch interne Impulse, Antriebe usw. ausgeschaltet, da andernfalls der Mensch abhandenkäme.
Breit setzt sich Siewerth mit der von ihm als „kühn“ bezeichneten Erwiderung des Thomas auf den zweiten Einwand auseinander, da es gut möglich ist, dass die Entgegnung nicht unerhebliche Missverständnisse provoziert. Dass ein Mensch bei seinem Handeln nicht mehr recht bei Verstand sein kann, führt Thomas auf eine menschliche Naturendualität zurück, auf die Differenz zwischen einer verstandesmäßigen und einer sinnlichen Natur. Während die Hierarchie der beiden Naturen bei tugendhaften Menschen gewahrt bleibt und daher der Geist die Leidenschaften dominiert, tritt im Wahnsinn die Vernunftnatur die Herrschaft an die sinnliche Natur ab: Der Mensch mutiert – fast – zum Tier. In dieser Naturendifferenz erkennt Thomas aber auch den Grund für die genannte Möglichkeit, trotz übermächtiger Leidenschaften einen Restverstand nicht einzubüßen und gegen Leidenschaften und Wahn einen – wie auch immer erfolgreichen – Willensakt setzen zu können. Die Naturendifferenz erklärt schließlich die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Dinge und differierenden Handlungsdispositionen: dass Handlungen aufgrund von Dispositionen der Vernunftnatur vom Standpunkt der Sinnennatur aus nur als Naturwidrigkeiten erscheinen können.
Dieser von Thomas hier propagierte anthropologische Dualismus, der dem Phänomenbestand menschlicher Selbsterfahrungen entsprechen mag, provoziert in mehrfacher Hinsicht. Die Einheit des Menschen scheint konzeptionell ausgehebelt zu werden. Ist der Mensch ein Kompositum aus heterogenen Elementen, die in ihm im Widerstreit zueinander stehen? Wie sind diese Aussagen des Thomas im Kontext seiner Anthropologie einzuordnen?
Siewerth setzt diesen dualistisch klingenden Ausführungen des Thomas dessen eigene Auffassung von der Einheit der menschlichen Natur entgegen. Danach verbürgt die Einzigkeit der Form, der Geistseele, die seelisch-leibliche Einheit des Menschen. Des Weiteren gehört zu dieser einheitlichen Anthropologie des Thomas die Vorstellung von der prinzipiellen Harmonie der geistigen und sinnlichen Kräfte. Und doch, argumentiert Siewerth: Die Auflösung dieser Harmonie, die bei Paulus auf den nicht-naturalen, sondern heilsgeschichtlichen Grund der Ursünde zurückgeführt wird, muss in ihrer metaphysischen Möglichkeitsbedingung bedacht werden. D.h. Siewerth zufolge darf die Einheit des Menschen nicht nur als eine feststehende Realität betrachtet werden; sie ist vielmehr immer schon Aufgabe, Auftrag: Jeder Mensch muss die Einheit seiner Natur in ihren unterschiedlichen Vermögen und spontanen Antrieben selber aus der Mitte seiner seelisch-leiblichen Identität einholen und verwirklichen. In der Leiblichkeit des Menschen sieht Siewerth außerdem eine Potentialität, die nicht schlagartig, sondern nur geschichtlich zu realisieren ist. Diese materielle Potentialität stellt nun auch eine unmittelbare Offenheit für die materielle Welt dar; aus dieser Offenheit erwächst eine Gestaltungsaufgabe. Diese Offenheit besagt, dass dem Menschen alle materielle Wirklichkeit sozusagen immer schon unter die Haut geht und auf ihn einwirkt. Um diese Sinneseinwirkungen der materiellen Objekte weiß der Mensch, da sein Geist alle seine Sinne innerlich begleitet und sein Geist auch in ihnen um sich weiß. Der Mensch kann und muss zu diesen Sinneseinwirkungen bzw. zu den durch sie vorgestellten Objekten Stellung beziehen, und zwar im Blick auf die Gesamtausrichtung seiner Existenz. Diese Lebensaufgabe konnotiert die Möglichkeit der Selbstentgleisung. Die bloße Möglichkeit wird durch die Sünde real. Ein „Ver-rücktwerden“ aus der mit Gott verbundenen Mitte heraus in die Peripherie uneingeholter Impulse wird durch die Sünde möglich; Begehrenswertes gewinnt über Gebühr provozierende Attraktivität und verlockt unwiderstehlich zur Tat.
In der Erwiderung auf den dritten Einwand wird die anthropologische „Zwei-Naturen-Lehre“ nochmals aufgegriffen. Mit ihr soll jener Einwand pariert werden, nach dem die Sinnenverbundenheit des Menschen ihn zwangsläufig sinnlichen Handlungspotentialen aussetzt, die ihm seine Freiheit rauben. Demgegenüber besagt die Naturendifferenz: Das geistige Vermögen des freien Willens steht sogar in einer naturalen Differenz zur sinnlichen Vermittlung seiner Gegenstände, weshalb sich der Mensch auch existentiell von sinnlich präsentierten Gegenständen distanzieren kann. Die naturale Differenz erklärt außerdem das Phänomen, so Thomas, dass sinnlich präsente Gegenstände nicht notwendigerweise immer passioniert – und daher zwangsweise – angezielt werden. Demnach stehen nicht nur Geistiges und Sinnenhaftes in einer Differenz zueinander; selbst Sinne und Leidenschaften müssen verschiedenen Ordnungen angehören. Die Naturendifferenz schafft diese weiteren Unterscheidungen und Zuordnungen. Während sich nämlich in den Sinnen die geistigen Vermögen der menschlichen Seele fortsetzen, geschieht dies in den sinnenhaften Leidenschaften gerade nicht. Letztere gehören einer anderen Ordnung an. Deshalb gibt es sinnenhaftes, aber leidenschaftsfreies Erkennen und Wollen. Diese Differenzierungen blendet der Einwand aus.
Siewerth fügt in seinem Kommentar noch weitere Unterscheidungen zwischen den Vermögen an diese Überlegungen des Thomas an – mit dem Ziel allerdings, die innere Verwobenheit geistiger und sinnenhafter Vorgänge aufzuzeigen. Auf diese Weise rückt er immer wieder die naturale Einheit des Menschen als Quelle aller Ausdifferenzierungen in die Mitte der Betrachtung. Durch diese hermeneutische Maßnahme schützt er die Anthropologie des Thomasvor dem Vorwurf eines Dualismus. Gleichzeitig intendiert Siewerth, den Ertrag dieser Differenzierungen zu sichern: vor allem die Einsicht in die Freiheit des Willens, der vom Guten bewegt wird.
Mit den folgenden Überlegungen knüpfen wir an die eingangs gestellte Frage nach der Anschlussfähigkeit der erläuterten Freiheitstheorie an. Wie dabei von der Gestalt aus, die das thomasische Freiheitsverständnis durch die Kommentierung und Deutung Siewerths erhalten hat.
Max Müller (1906-1994) hat darauf aufmerksam gemacht, dass Siewerth Martin Heideggers (1889-1976) „Kehre“ rezipiert, um Subjekt und Freiheit vom Sein her zu begreifen, nicht umgekehrt. Der vorliegende Kommentar bestätigt diese Einschätzung. In ihm wird außerdem deutlich, dass Siewerth dieses Sein als Güte und Liebe versteht. Das „neutrale“ bonum zeigt sich zuerst in personaler Vermittlung. Eine Ontologie des Seins als Güte und Liebe begreift ebenso die Einheit des Seins als positives Differenzgeschehen; ohne personale Subsistenz und Differenz könnte das Sein nicht als Liebe erscheinen. Für Siewerths Freiheitsverständnis folgt aus diesen ontologischen Koordinaten: Die Aktualität der Freiheit gründet in Andersheit und Liebe; Freiheit wird zu sich erweckt. Folglich ist der freie Wille weder als vereinnahmende Macht noch als konquistatorische Aneignungspotenz zu verstehen, sondern, wie Siewerth formuliert, als Ek-sistenz auf das sich ihm zeigende Gute hin. Es ist üblich geworden, die thomasische Freiheitskonzeption mit dem Stichwort der verdankten Freiheit zu charakterisieren. Nach Siewerths Kommentar stattet die Freiheit ihren Dank sozusagen in ihrem Engagement für das Erstrebenswerte, für dessen Wahrheit und Erscheinung, für die Unvertretbarkeit des Anderen ab. Ist diese Konzeption verdankter, ekstatischer Freiheit anschlussfähig an die Freiheitsdiskurse der Gegenwart?
Wie eingangs vorausgeschickte, steht Siewerths Freiheitsdeutung Ansätzen nahe, die, wie beispielsweise Emmanuel Levinas (1905-1995), Philosophi ganz vom Anderen her konzipieren: ausgehend vom Guten, allerdings nicht im neutralen Sinn der Erstrebbarkeit, sondern im engagierten, moralischen Sinn der Verpflichtung des Subjekts für die Andersheit des Anderen. Die thomasische Freiheitsphilosophie Siewerths ist anschlussfähig an zeitgenössische, ethisch orientierte Subjekttheorien, die das Subjekt vom Anderen seiner selbst aus begreifen, aber dennoch die Wahrheitsfähigkeit des Subjekts nicht diskreditieren. Diese Wahrheitsfähigkeit des Subjekts gründet nach Siewerth nur nicht in einem allein auf sich bezogenen Subjekt; das Subjekt ist vielmehr in seinem Selbstbezug, in seinem Erkennen und Wollen ursprünglich mit der Wirklichkeit verbunden. Es verfügt aber über diese Verbindung nicht, sie muss ihm immer schon geschehen sein. Durch apagogische Überlegungen erhärtet Siewerth diese Annahme. Die Freiheit der Freiheit hängt von dieser ursprünglichen Verbindung ab. Andernfalls bliebe sie immer gefangen in sich. Siewerths ontologische Freiheitskonzeption plausibilisiert die ursprüngliche Offenheit der Freiheit für Andere und anderes, klärt Bedingungen von gelingender Begegnung und Kommunikation.
Die von Siewerth interpretierte thomasische Freiheitsphilosophie ist anschlussfähig an Freiheitstheorien der Gegenwart, die gegenüber einem strikten Determinismus die unauflösbare Freiheit des Menschen zur Geltung bringen. Die nicht unproblematische Rede von den zwei Naturen des Menschen, die an Immanuel Kants Unterscheidung von Natur und Freiheit erinnert, dient Thomas als Theoriemodell, um die Transzendenz des freien Willens zu verteidigen. In der Gegenwart verweist dieses Modell auf die notwendige Unterscheidung zwischen Ursachen und Gründen des Handelns; es zeigt sich affin zum Kompatibilismus. Mit seiner zweiten, sinnlichen Natur gehört der Mensch zur Sphäre empirischer Kausalität. Deshalb können im Menschen Handlungen in geradezu mechanischer Weise induziert werden, z. B. bei Krankheit. Evolutionstheoretisch, soziologisch und durch andere Lebenswissenschaften beschreibbare Determinanten des Handelns gehören ebenfalls zu dieser Sphäre, d.h. auch im seelischen Bereich ereignen sich quasi-mechanische Abläufe. Bei Neurosen wird dies in pathologischer Weise ersichtlich. Die zweite Natur des Menschen kann man deshalb im weiteren Sinn als die Sphäre des Menschen begreifen, die durch Kausalitäten bestimmt ist und in der Handlungen (weitgehend) in Ursachen gründen.
Die erste Natur des Menschen steht hingegen für die Libertas, die Wesensfreiheit oder transzendentale Freiheit des Menschen. Zu ihr gehört bzw. sie ist das unhintergehbare Bewusstsein, sich selbst überantwortet zu sein, um in der Vielzahl von Handlungen dem eigenen Dasein eine unverwechselbare Gestalt zu geben, die bestimmend bleiben soll. Die Wesensfreiheit (libertas) ermöglicht die Entscheidungs- und Wahlfreiheit (liberum arbitrium). Im Raum der Wesensfreiheit erfolgt ein Handeln aus Gründen, aufgrund von Einsichten, von erfassten und gegeneinander abgewogenen Werten. Spontane Handlungsimpulse, mechanische Aktivitäten werden in diesem Freiraum rezipiert, evaluiert und prognostiziert. Es stellt sich die Aufgabe, diese impulsartigen Ursachen des Handelns mehr und mehr in die eigene personale Handlungsmitte zu integrieren, damit die Gründe des Handelns dessen Ursachen moderieren. Der „Hauptgrund“ des Handelns soll der Mensch sein – kraft eben jener Eigenschaft, sich aufgegeben und Zweck seiner selbst zu sein. Dem entspricht der Mensch, wenn er seine „beiden Naturen“ zu der einen macht, die er immer schon ist.
Die Rede von der Wesensfreiheit signalisiert, dass das menschliche Wesen gegenüber der Freiheit keine Diktatur ausübt, sondern dass das menschliche Wesen durch Freiheit definiert ist. „Eingeschränkt“ ist die Wesensfreiheit „nur“ darin, sich nicht selber abschaffen zu können; ein derartiger Versuch nähme sie nochmals in Anspruch und bestätigte sie. Aussichtslos sind daher wissenschaftliche Ambitionen, die Freiheit ganz auf jene „zweite Natur“ zurückzuführen und in eine quantitative Bestimmung aufzulösen. Forschung verdankt sich der unhintergehbaren Freiheitsnatur des Menschen und einer spontanen Entscheidung. Auch der Sündentheologie wird mit diesen Überlegungen eine Grenze gesetzt. Die Sünde kann dem Menschen zwar zur „zweiten Natur“ werden; dabei bleibt die transzendentale Freiheit jedoch stets vorausgesetzt. Auf sie und ihre defiziente Selbstverwirklichung hin angesprochen kann der Mensch seine Unfreiheit entdecken.
Die Sünde, das im Kommentar angesprochene moralische Böse, muss ebenso zu den möglichen Gründen des Handelns gerechnet werden. Dennoch ist es schwer, wie erläutert, das Böse selbst als Grund zu identifizieren, da es nur einen Abgrund darstellt: den Inbegriff des Unvernünftigen und Sinnlosen, das sich jeder Angaben von vernünftigen und sinnvollen Gründen entzieht.
Die Theodizee-Problematik spricht Siewerth in seinem Kommentar nicht an. Er gibt mit seinen Überlegungen jedoch erste Hinweise: Wie der Mensch sich selbst erscheint, wie er ist und seine Welt, darüber entscheidet er in einem bestimmten Maß selbst – durch seinen freien Willen. Entscheidet er sich gegen seine Fähigkeit zur Integration seiner geistigen und sinnlichen Vermögen und Strebekräfte, erzeugt er ein Zerrbild seiner selbst und seiner Welt, so dass Orientierung und Antworten auf schwerwiegende Lebensfragen schwer fallen. Menschen, die das Sein als Güte und Liebe vermitteln, bieten ihrerseits eine erlebbare Weltanschauung an, in der die Erfahrung des Negativen nicht zum Verlust der Einsicht in die prinzipielle Begehrenswürdigkeit des Seienden führen muss; diese Menschen bieten gewissermaßen eine „gelebte Theodizee“. Wenn die Welt auch nicht die beste aller möglichen sein kann, weil es im Endlichen nichts unüberbietbar Bestes gibt, so könnte diese Welt doch immerhin gut genug sein für den Menschen, vorausgesetzt, ihm wird das Sein als Güte und Liebe vermittelt. Aus theologischer Sicht wird damit die Wahrheit des Wirklichen erreicht: dass es nicht nur erstrebenswert ist, weil es Gott durch seinen Willen gewollt und geschaffen hat, sondern dass das Gutsein der Wirklichkeit die Manifestation der Schöpfergüte und Liebe Gottes darstellt. Ohne Kooperation des Menschen im Guten wird diese theologische Aussage allerdings zum Anlass, an der Möglichkeit einer Theodizee massiv zu zweifeln.
Als im Höchstmaß kontrovers dürfte die theologische Ausrichtung der thomasischen und Siewerthschen Freiheitsthematik erscheinen. Während sich noch Gründe gegen den Einwand vorbringen lassen, dass die formale Gutheit als Bezugs- und Beweggrund des Willens nicht dessen Freiheit aufhebt, so gefährdet doch die Extrapolation dieses Zusammenhangs auf Gott und seine Gnade hin die Konsistenz der Argumente. Die Aussage, dass der Mensch Gott genauso wenig nicht nicht wollen kann wie seine beatitudo oder das allgemeine Gut, führt offenbar in eine prekäre Lage der Argumentation. Um des geoffenbarten Endziels des Menschen willen beweist Thomas die menschliche Willensfreiheit – mit dem Ergebnis, dass die Freiheit wegen ihres notwendigen Bezugs auf dieses Ziel illusionär sein muss. Emerich Coreth (1919-2006) hat in der Tat die These vertreten, dass es vor Gott keine Freiheit mehr gebe, nur gegenüber endlichen Werten besteht diese Freiheit.
Leider hat Siewerth (von einigen Anspielungen abgesehen) den vierten Artikel der zehnten Quaestio nicht mehr kommentiert, in der die Frage nach einem Bewegtwerden des Willens durch Gott zumindest kurz zur Sprache kommt. Thomas deutet in wenigen Zeilen an, dass Gott die von ihm als Schöpfer konstituierte, initiierte und mitgetragene Eigenwirksamkeit des Geschöpfs respektiert, auch im Fall des menschlichen Willens, im Hinblick auf dessen Kausalität, auf Vollzugs- und Wahlfreiheit. Thomas unterstreicht: Gott determiniert die Freiheit nicht mit Notwendigkeit auf einen Gegenstand. Ein notwendiges Bewegtwerden des freien Willens durch Gott kann nur den Naturnotwendigkeiten folgen, die schon vorgegebenen sind wie die Bezogenheit auf das allgemeine Gute. Vorgegeben ist ebenso, dass Gott als Ursprung und Ziel der Welt notwendigerweise alles auf sich hin bewegt, auch den freien Willen – aber eben diesem gemäß. Der Aufweis eines notwendigen Bezugs des Menschen auf Gott ergab außerdem, dass aus diesem Bezug weder für Gott noch für den Menschen der Zwang gegenseitiger Zuwendung folgt, nur deren Möglichkeit wird denkbar. An anderer Stelle unterstreicht Siewerth, dass Gottes Macht nie gegen die menschliche Freiheit wirkt, sondern mit ihr: sie nicht nötigend, sondern sie vermögend, befähigend zur Selbstursächlichkeit. Ob aus dieser Befähigung moralisch Gutes oder Schlechtes folgt, darüber entscheidet der Mensch. Er ist frei vor Gott.
Der Mensch hat daher die Möglichkeit, etwas anderes als Gott zu seinem Gott zu machen. Sicherlich ist damit erneut behauptet, dass der Mensch nicht unterhalb des göttlichen Niveaus – ohne Bezug auf ein summum bonum – eine letzte Bestimmung und Erfüllung seines Wesens (seiner Natur) erreicht. Insofern das Geschaffene ein Bild des Ungeschaffenen darstellt, liegt es für Siewerth auf der Hand, eine quasi-ungeschaffene, absolute Größe im Endlichen ausmachen zu können und auf diese hin die Vollkommenheit und Verwirklichung des eigenen Wesens anzustreben.
In der Unbegrenztheit des Seins als Akt erkennt Siewerth einen Gotteskandidaten: Heideggers Verständnis des Seins, das nicht mehr auf einen absoluten Seinsgrund zurückbezogen wird, spreche dem Sein divine Züge zu. Die Substantialität der Dinge, ihr In-sich-Stehen und Aus-sich-heraus-Wirken lässt sie als etwas Absolutes erscheinen. Der Mensch in seinem Personsein, in seiner unantastbaren Würde, wäre eine weitere prominente Variable des Absoluten. Einen „geschaffenen Gott“ nennt Siewerth den Menschen26. Nicht nur die Würde des Menschen, sondern auch seine formal unbedingte Freiheit spricht die Sprache des Absoluten. Wer sich auf die Freiheit eines Anderen bezieht, sich für sie engagiert, der verwirklicht seine eigene Freiheit im Bezug auf etwas formal unbedingt Gutes, Erstrebenswertes, das nicht Gott ist. Auch die Gerechtigkeit könnte man an die Stelle des Absoluten besetzen, da sie kaum anders denn als unbedingte Größe zu denken und anzustreben ist. Würde man sie Bedingungen oder Relativierungen unterwerfen, so schaffte man sie ab. Das Engagement für grenzenlose, unbedingte Gerechtigkeit kann daher als Ziel menschlichen Strebens angegeben werden, als dessen höchstes Gut. Spätestens die Postmoderne bietet einen „Polytheismus der Werte“ (Max Weber), der für einzelne oder mehrere das höchste Gut bezeichnet.
Aus der Sicht von Thomas und Siewerth lässt sich allerdings der Nachweis führen, dass die aufgelisteten Substitute des Göttlichen trotz ihrer Unbedingtheit und Ungeschaffenheit endliche Größen darstellen (s.o.), was schon ihre mögliche Vielzahl belegt im Unterschied zur Singularität des Absoluten. Gefährlich wird es, wenn der Mensch aus der qualitativ endlichen Wirklichkeit „Unendliches“ erstehen lassen will: Bei einer Verunendlichung von Endlichem droht eine unendliche Überforderung, etwa im zwischenmenschlichen Bereich. Unbedingte Erfüllung kann nichts und niemand bieten, selbst ein politischer Dominus et Deus oder künstlich geschaffener Übermensch nicht. Das Endliche mag zu Recht als Realsymbol des Unendlichen profiliert werden, weil es in der Tat Grenzenloses erfahrbar macht: z. B. in der Kunst, in der Welt der Zahlen, in den Weiten des Universums. Es ist aber nicht selber das qualitativ Unendliche. Dies anzuerkennen und einen göttlichen Gott zu affirmieren, kann vor Verzweiflung oder Fanatismus bei dem Versuch bewahren, das Unendliche aus dem qualitativ endlichen Erdenmaterial herauszuproduzieren oder in anderen Kontexten des Lebens zu erzwingen. Auch wenn man sagen würde, die formal unbedingte Freiheit des Menschen ist schon eine ausreichende Basis ihrer selbst, bleibt die Frage nach ihrer Verwirklichung, die ohne die Affirmation eines auch inhaltlich unbedingten Gottes nicht konsistent zu denken ist. Aber aus diesem Gedankengang folgt kein Zwang, den Akt der Affirmation zu setzen.
Einzuräumen ist des Weiteren, dass auch der Glaube an den göttlichen Gott zum Motiv des Fanatismus entarten kann. Ein solcher Fanatismus ist Blasphemie, nicht nur des göttlichen Gottes, sondern auch der „endlichen Götter“ wie Gerechtigkeit, der Mensch als Selbstzweck, die Menschenwürde. Wer die „endlichen Götter“ nicht respektiert, verdunkelt den göttlichen Gott, in dem sie ihren Ursprung haben. Der Glaube an den göttlichen Gott überzeugt also nur, wenn er den Polytheismus der genannten Werte monotheistisch in sich integriert und in der Praxis zu seinem Recht kommen lässt.
Die Überlegungen dokumentieren, dass die notwendige Ausrichtung des freien Willens auf Gott und die beatitudo die Freiheit des Willens nicht aufhebt, da diese Ausrichtung nichts erzwingt – im Gegenteil. Epistemologisch bedeutet dies ebenso, dass jede Argumentation, welche die Freiheit und ihre notwendige Bezogenheit auf ein sie bewegendes, erstrebbares, letztes, absolutes Ziel plausibel machen will, die Unbedingtheit des Nachweises nicht als apodiktische, eine Zustimmung erzwingende Deduktion versteht, sondern sie als Appell an die unbedingte menschliche Freiheit begreift, sich selbst zu ergreifen. Die Argumentation zugunsten der Freiheit und ihres Bewegtwerdens durch das Gute kann nur selber ein begrenztes Gut darstellen in dem durch sie erschlossenen Horizont des allgemeinen Guten, das man wählen kann oder nicht.
In folgenden Büchern und Artikeln Gustav Siewerths wird die erörterte Thematik der Freiheit vertieft. Neuausgaben dieser Schriften sind geplant:
Im Folgenden ist die Einleitung abgedruckt, die der ursprünglich geplanten Publikation des Kommentars von Paulus Engelhardt OP vorgesehen war. Dort sind auch wichtige Hinweise zur Entstehung des Textes und seiner Aufbereitung zu finden. Das bereits erstellte Verzeichnis der Quellen- und Literaturangaben wurde beibehalten, vorhandene Neuausgaben wurden hinzugefügt. An dieser Stelle sei Pater Engelhardt in besonderer Weise gedankt, dass er seine Arbeit und die seiner Mitarbeiter mit der Übergabe der bereits vorliegenden Druckfahnen an die „Gustav-Siewerth-Gesellschaft“ selbstlos zur Verfügung stellte. An dieser Vorlage wurden nur wenige Korrekturen vorgenommen; die alte Rechtschreibung blieb erhalten. Herr Hans Joachim Joekel hat mit großer Sorgfalt die Druckfahnen gescannt, wofür ihm ebenso herzlich gedankt sei.
Michael Schulz
Wer Gustav Siewerth im Vollzug des Denkens erleben durfte - wie er in hinreißender Rede dachte und wie »es« mit ihm dachte, bannend und lockend in die Höhe und Dichte des Seins -, der erwartet im Nachlaß des so früh Heimgegangenen wohl kaum das mühsame und demütige Werk der Kommentierung. - Gustav Siewerth war von 1956 bis 1962 Jahr für Jahr im Oktober zur philosophischen Arbeitstagung der Albertus-Magnus-Akademie gekommen, um mit Kollegen und Studenten die Fruchtbarkeit zentraler Gedanken und Texte des Thomas von Aquin für ein heutiges philosophisches Fragen zu erproben. Dem Stil der Arbeitsgemeinschaft entsprechend ließ Siewerth sein Denken immer stärker von den Texten entzünden. Im Herbst 1961 entfaltete er den Gedankengang zweier Thomas-Artikel (I-II 10,1 f) als Antwort auf die Frage, wie die Natur des Menschen durch die Freiheit bestimmt und die Freiheit durch das Gute ermöglicht sei. Unmittelbar nach dem lebendigen geistigen Austausch schrieb er den Kommentar zu diesen Artikeln »über die Weise, wie der Wille bewegt wird« (I-II Fr. 10 Vorw.). Später fügte er die Untersuchung über das Verhältnis von Freiheit und Leidenschaft (I-II 10,3) hinzu.
Wir danken Frau Elisabeth Siewerth, daß sie uns die Veröffentlichung des Nachlassmanuskripts gestattet und soviel Geduld für die Verzögerung der Veröffentlichung aufgebracht hat. Ohne
diese Verzögerung rechtfertigen zu wollen, sei zur Textgestaltung bemerkt: Wir hatten vorgehabt, während der Arbeitsgemeinschaft im Oktober 1963 mit dem Verfasser noch einige Fragen
und Wünsche der Herausgeber zu besprechen. Zu Beginn der Tagung erreichte uns die unfaßbare Nachricht von seinem Tode. Ein Tagungsteilnehmer, Prof. Otto F. Ris, berichtete uns von
einem Gespräch, das er mit Gustav Siewerth etwa eine Woche vor dessen Tode geführt hatte. Dieser habe in gewohnter Lebendigkeit, in einer Intuition, die sich nachträglich wie eine
Vorausschau ausnahm, von der letzten Vollendung in der Schau Gottes von Angesicht zu Angesicht gesprochen. Nachdem wir nicht mehr mit Gustav Siewerth sprechen konnten, hatten wir kein
Recht, wesentlich in die Textgestaltung einzugreifen. Nach einigem Zögern behielten wir auch die ziemlich weitgehenden Unterstreichungen des Manuskripts (im Kursivdruck wiedergegeben)
bei und ergänzten sie gelegentlich noch durch eine verdeutlichende Hervorhebung. Ähnliches gilt für den Gebrauch der Anführungszeichen, den wir etwas vereinheitlichten. Zwei weitergehende
Ergänzungen sind sicher im Sinne des Heimgegangenen:
1. die Voranstellung des lateinisch-deutschen Textes der kommentierten Artikel; 2. der Versuch, die Thomas-Texte, die der Verfasser zitiert oder auf die er anspielt, in Fußnoten nachzuweisen.
Wir bieten den lateinischen Text der Editio Leonina mit den Quellennachweisen im Stil der lateinisch-deutschen Thomas-Ausgabe. Die deutsche Übersetzung ist aus den im Siewerthschen
Kommentarmanuskript verstreuten Stücken zusammengesetzt und in den Lücken durch eigene Übersetzung ergänzt. Eine typographische Unterscheidung der beiden Elemente schien uns nicht erforderlich,
da die Siewerthsche Übersetzung jeweils an der entsprechenden Stelle des Kommentars zu finden ist. Die Fußnoten enthalten die wenigen Fußnoten des Manuskripts, die zuweilen durch genaueren
Nachweis ergänzt wurden, sowie (in der Mehrzahl) von den Redaktoren herausgesuchte Quellennachweise und zugehörige Thomas-Texte. Wo die Zugehörigkeit wichtiger Texte nicht ohne weiteres
einsichtig ist, wurden diese zur Prüfung durch den Leser lateinisch zitiert und zuweilen durch Hervorhebungen verdeutlicht. Das Recht zu diesem Vorgehen entnahmen wir der Zustimmung, die
Gustav Siewerth zu ähnlichen - wenn auch sparsameren - Ergänzungen der Fußnoten in dem Bändchen »Das Sein als Gleichnis Gottes« (Heidelberg 1958) bereitwillig und dankbar gab.
Für die gekennzeichnete bescheidene, aber nicht ganz mühelose Arbeit der Redaktion danke ich Herrn Gabriel Jüssen, Bochum, sowie meinen Mitbrüdern P. Cyrillus Hatting und P. Nikolaus Höhn, Walberberg. Herrn Dr. Hans Urs von Balthasar danke ich für die freundliche Erlaubnis, sein Abschiedswort (Hochland 56 [1963/64] 182-184) abzudrucken, und Herrn Dr. Wolfgang Behler, Weingarten, für die freundliche Beantwortung zweier Fragen zu den Fußnoten 42 und 143a. Ein Lesehinweis sei noch angefügt: Wem die methodischen Analysen der thomasischen quaestio zunächst zu formal erscheinen, kehre nach der Lektüre des Ganzen noch einmal zu dieser wichtigen und erhellenden Anfangsuntersuchung zurück!
Walberberg, Juni 1967Paulus Engelhardt OP
(Summa Theologiae Pars I-II Quaestio X Articuli 1-3)