Gesammelte Werke - Band 5a

GUSTAV SIEWERTH
THOMAS VON AQUIN - DIE MENSCHLICHE WILLENSFREIHEIT

  • ISBN 978-3-938885-10-9
  • Erschienen Dezember 2019
  • Hardcover mit Schutzumschlag
  • 336 Seiten
  • Mit einem Vorwort zur Neuauflage von Prof. Dr. Michael Schulz
  • Verlag: Gustav-Siewerth-Gesellschaft

KURZBESCHREIBUNG

Die Gustav-Siewerth-Gesellschaft Konstanz (gustav-siewerth.de) legt mit diesem Band ein weiteres Werk des Philosophen und Pädagogen Gustav Siewerth (1903-1963) in Neuausgabe vor. Es handelt sich vor allem um eine umfangreiche Einleitung, die Siewerth zum Thema der menschlichen Willensfreiheit verfasste und die er ausgewählten Texten des mittelalterlichen Theologen Thomas von Aquin (1225-1274) voranstellte.
Das Buch erschien erstmals 1954. Gegenüber Descartes und Kant stellt Siewerth die thomasische Vorstellung von der Substantialität physischer Realität und biologischer Lebensformen heraus, um die unbelebte und belebte Natur nicht mechanistisch auf bloße Funktionsgefüge zu reduzieren. Vielmehr sollen natürliche Akteure als eigenständige Wirklichkeiten gewürdigt werden, die auf die Genese der menschlichen Freiheit verweisen.
Mit Thomas versucht Siewerth zugleich über ihn hinzugehen, indem er den freien Willen nicht als ein dem menschlichen Erkennen untergeordnetes Seelenvermögen deutet, sondern Freiheit mit der Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes identifiziert.
Ausführlich erörtert Siewerth die Ausführungen des Thomas zur Thematik des Bösen.

Michael Schulz

VORWORT ZUR NEUAUFLAGE

Gustav Siewerth zur Metaphysik der Willensfreiheit

Die Gustav-Siewerth-Gesellschaft Konstanz (gustav-siewerth.de) freut sich, hiermit ein weiteres Werk des Philosophen und Pädagogen Gustav Siewerth (1903-1963) in Neuausgabe vorlegen zu können. Es handelt sich vor allem um eine umfangreiche Einleitung, die Siewerth zum Thema der menschlichen Willensfreiheit verfasste und die er ausgewählten Texten des mittelalterlichen Theologen Thomas von Aquin (1225-1274) voranstellte. Das Buch erschien erstmals 1954 im Schwann-Verlag in Düsseldorf.

Siewerth erläutert in seiner Einleitung das Prinzip der Textauswahl. Präsentiert werden philosophisch orientierte Texte aus den „problemreichen, spekulativ ursprünglicheren Abhandlungen ‚über die Wahrheit‘“ (18) (Quaestiones disputatae de veritate 22, 24, 25, 26), die als Ziel des Menschen das Gute bestimmen. Diesen Erörterungen aus De veritate stellt Siewerth die 6. Quaestio aus den Disputationes über das Böse voran, da sie in ausgezeichneter Weise die thomasischen Ausführungen zur Freiheit des Willens bündelt und nach Einschätzung Siewerths „in die Mitte der ontologischen Probleme“ (19) der Freiheitsthematik führt. Siewerth verzichtet auf den Abdruck der ausgereiften Abhandlungen aus der Summa Theologiae (I-II), die über den freien Willen im theologischen Zusammenhang der Fragen nach dem letzten Ziel des Menschen handeln. Dieses letzte Ziel des Menschen wird durch Gottes Offenbarung im Heilswirken Jesu Christi zugänglich und wirklich: die ewige Seligkeit in der Gottesanschauung. In seiner Einleitung bezieht sich Siewerth aber auch auf diese theologisch verorteten Überlegungen des Thomas zur Freiheit; dadurch bietet er ein kohärentes Gesamtbild.

Die Texte dieser Auswahl sind heute in besseren kritischen Ausgaben mit neuen, besseren Übersetzungen zugänglich. Aber der Wert dieses Buches liegt in Siewerths Einleitung, zu der dieses Vorwort einige Hinweise geben möchte.

I.

In seiner Rezension würdigt der Dominikaner Louis-Bertrand Geiger (1903-1983) Siewerths Verdienst, die Freiheitslehre des Thomas in den Kontext der thomasischen Metaphysik gestellt zu haben (Bulletin Thomiste 9 [1954-56], 335-336). Ähnlich preist der Moraltheologe Arthur Janssen (1886-1979) den großen Tiefgang, mit dem Siewerth die thomasische Metaphysik der Freiheit behandelt (Ephemerides Theologicae Lovanienses 31 [1955], 456), in gleicher Weise äußern sich der Philosoph und Theologe Joseph Möller (1916–2007) (Theologische Quartalschrift 135 [1955] 91-92) und Franciscus de Raedemaeker (Bijdragen 18 [1957] 327). Dieser Tiefgang verhindert nach Einschätzung des Jesuiten Georg Trapp gerade nicht, dass Siewerth die inneren Spannungen zwischen einzelnen Aussagen des Thomas von Aquin zum freien Willen markiert (Theologische Revue 52 [1956], 271-272) und, gestützt auf Aussagen des Thomas, zu einer Neubewertung der ontologischen Vorrangstellung des menschlichen Erkenntnisvermögens (Verstand, Vernunft) vor dem freien Willen vorstößt. Auch der Jesuit und Philosoph Emerich Coreth (1919-2006) begrüßt in seiner Besprechung (Zeitschrift für katholische Theologie 77 [1955], 231) Siewerths Initiative, die für Thomas‘ Denken kennzeichnende Unterordnung des Willens unter die Vernunft zu überwinden. In einem „kritischen Referat der Siewertschen Arbeit“ erörtert der Tübinger Professor für Philosophie Ludger Oeing-Hanhoff (1923-1986) in einem eigenen Aufsatz Zur thomistischen Freiheitslehre diese „vielleicht tiefste Untersuchung zur Metaphysik der Freiheit“. Ähnlich wie Emerich Coreth unterstreicht ebenso Oeing-Hanhoff, dass Siewerth anhand der Thomas-Texte die substantielle Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes herausstellt, die durch eine „intuitive, nicht durch die Sinne vermittelte Offenbarkeit der Willensakte“3 möglich sein soll. In der Gegenwart spricht man von einer präreflexiven Vertrautheit des Selbstbewusstseins mit sich selbst als Möglichkeitsbedingung jedes intentional-voluntativen Aktes1. In dieser Vertrautheit mit sich ist auch ein nicht-intentionales Sichwollen impliziert. Diese Selbstgegebenheit des Bewusstseins verweist schließlich auf einen Grund, der das Aufkommen des Selbstbewusstseins verantwortet.

II.

Wenn Siewerth daher die apriorische Selbstgegebenheit und Selbstursprünglichkeit des Geistes seinsphilosophisch deutet, nach der sich diese Selbstgegebenheit und Ursprünglichkeit des Geistes dem Sein verdankt, widerspricht diese Auffassung nicht der These vom Grund, der für das Aufkommen des Selbstbewusstseins verantwortlich ist. Siewerth insistiert auf der Vorstellung von der Selbstgegebenheit des Geistes, um den freien Willen nicht ausschließlich als Vermögen der Seele zu erschließen, sondern um Freiheit als Äquivalent von Geist und Subjektivität zu schließen. Siewerth übergeht nicht die Überlegungen des Thomas zu den Seelenvermögen, zu denen Erkennen und Wollen gehören. Aber er setzt alles daran, die Einheit der Seelenvermögen verständlich zu machen sowie die „Einheit und Ganzheit des Subjekts“, wie Oeing-Hanhoff betont2. Modern gesprochen, ist es der Mensch, der sich in seiner Selbstgegebenheit als Freiheitssubjekt aufgeht. Aber auch für dieses Freiheitssubjekt gilt, dass es für sein Aufkommen nicht verantwortlich zeichnet. Der freie Wille fängt zwar selbstursprünglich ganz bei sich, aber er fängt sich nicht selber an (Romano Guardini), er ist sich gegeben von jenem Grund. Diese Thomas-Deutung Siewerths findet die Anerkennung Oeing-Hanhoffs3. Siewerths Thomas-Deutung folgt einer augustinisch-idealistischen Hermeneutik, die er insbesondere in seinem maßgeblichen Werk Der Thomismus als Identitätssystem (1939/1961/1979) entfaltet. Auch die erwähnte Diskussion der Präferenz, die Thomas dem Erkennen vor dem freien Wollen einräumt, steht in diesem hermeneutischen Zusammenhang: Die Selbstursächlichkeit der Freiheit verlangt es, ihr als Äquivalent des menschlichen Geistes (Subjekts) eine fundamentale Stelle einzuräumen.
Fragen, wie die nach dem „Vorrang der Vernunft vor dem Willen“ (155) oder nach der Selbsterkenntnis der Seele, hat Siewerth über die entsprechenden Hinweise in der Einleitung hinaus eigene Exkurse gewidmet, die er als Anhang der Einleitung anfügt. So erhält auch die Frage nach der „Determination und der Freiheit in der Natur“ (146) einen eigenen Exkurs sowie „Descartes’ Lehre von der Freiheit und Sartres Deutung“ (149). Den Schritt zur Theologie kennzeichnen seine Exkurse zum willentlichen Charakter der Gottesschau und die Erörterung der gnadentheologischen Debatten zwischen Repräsentanten des „Thomismus und Molinismus“ (165).

III.

Gegenüber Descartes und Kant stellt Siewerth die thomasische Vorstellung von der Substantialität physischer Realität und biologischer Lebensformen heraus. Auf diese Weise beabsichtigt er, die Gefahr abzuwenden, unbelebte und belebte Natur mechanistisch auf bloße Funktionsgefüge zu reduzieren. Vielmehr sollen sie als eigenständige Wirklichkeiten gewürdigt werden, die ihre Konstitutionsbedingungen überschreiten und ein Ansichsein darstellen. Nur in dieser Perspektive wird ersichtlich, dass der Mensch als Wesen der Freiheit und Selbstbestimmung aus der Evolution der Natur hervorgegangen sein kann und nicht eine völlig andersartige Lebensform im Gegensatz zu einer deterministisch verstandenen Natur darstellt.
Siewerth widmet einem Abschnitt der „Freiheit des Tieres“ (43), um mit Bezug auf Thomas von Aquin im tierischen Verhalten eine „‚gewisse Ähnlichkeit mit dem freien Entscheidungsvermögen‘“ (44) aufzuzeigen. Thomas zufolge kommt dem Tier die Freiheit zu, von sich aus zu handeln und ihm widerfahrende Ereignisse und Begegnungen mit anderen Lebewesen urteilend einzuordnen. Das Handeln des Tieres folgt also keinem bloßen Mechanismus, sosehr Instinkte und angeborene Verhaltensprogramme auch zu seiner Naturausstattung gehören mögen. Aber diese Naturausstattung ist auf die substantielle Mitte des Tieres hin integriert; es handelt das Tier und nicht seine Naturausstattung mit ihm. Die Flucht eines Tieres vor einem Raubtier folgt demnach nicht deterministisch aus der Natur des Fluchttieres. Vielmehr erfasst der Hase die Gefährlichkeit des Wolfes im Hinblick auf seine eigene Natur und nimmt deshalb von sich aus Reißaus.
Für Siewerth besteht die Leistung des Thomas darin, in der Substanz den metaphysischen Grund für alles Wirken zu erkennen, angefangen bei Pflanzen und Tieren bis hin zum Menschen. Dadurch gelingt es, den Menschen als Wesen der Freiheit in ein umfassendes metaphysisches Naturverständnis zu integrieren und den Dualismus zwischen Freiheit und Natur zu überwinden. Diese Konzeption ist gerade in der Gegenwart von Aktualität; sie bietet eine Metaphysik der Ökologie, die Eigenwert und Eigenwürde nicht-menschlicher Akteure im Naturgeschehen zur Geltung bringt.

IV.

Siewerths Erläuterungen des Bösen im Verständnis des Thomas von Aquin (123-144) zielen zunächst darauf ab, den metaphysisch-ontologischen Sinn der Vorstellung zu erschließen, nach der das Böse nur unter dem Vorwand des Guten erstrebt werden kann. Deshalb ist das Böse in sich nichtig (privatio boni, privatio entis). Die These, dass das Böse unter dem Anschein des Guten im Handeln angezielt wird, veranlasst Siewerth dazu, das Verwirrende und Scheinhafte der endlichen Wirklichkeit von Thomas her zu erschließen. Das erweckt manchmal den Eindruck, als ob Siewerth das thomasische Verständnis des Endlichen der von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) entwickelten Vorstellung annähert, nach der das Endliche ein malum metaphysicum darstellt, da es als das Andere Gottes niemals auf der Stufe göttlicher Vollkommenheitstehen kann und selbst in seiner endlichen Vollkommenheit (sofern sie erreicht wird), begrenzt bleibt. Die irritierende Vielheit der endlichen Wirklichkeit begreift Siewerth als Manifestation eines Mangels: nur in pluraler Spreizung gelingt es dem Endlichen, die einmalig existierende Vollkommenheit Gottes nachzuahmen. Der unaufhebbare Mangel ist ebenso „mit der geistigen Natur des Menschen wie des Engels gegeben“ (130). Diese Mangelhaftigkeit des Endlichen und der geschaffenen Geistnatur bringt Siewerth in den Zusammenhang mit der Herkunft von allem, das nicht Gott ist - dass nämlich die endliche Realität „vom Nichts her ihren Ausgang nimmt“ (130). Siewerth bezieht sich dabei auf Thomas, der formuliert, dass exklusiv Gott ex nihilo agit (De veritate, q. 24 a. 1 s. c. 2). Er folgt der Suggestivkraft des Ausdrucks ex nihilo, wenn er diese Herkunft des Endlichen aus einem dunklen Abgrund in der Vielfalt und Nichtigkeit des Endlichen sowie im menschlichen Willen wiederentdeckt: „Diese Nichtigkeit [des Nichts] waltet … in aller Zufälligkeit und Partikularität des geschöpflichen Seins, im besonderen Maß aber in der Materialität, mit der unsere menschliche Natur verwachsen ist, so dass aus dem Ungeformten, Unbestimmten, Beiläufigen und aus der Scheinhaftigkeit der partikulären Wirklichkeit ein hinreichender Grund für die Unordnung und Unsicherheit in der Willensentscheidung sich ergibt.“ (130)
Offenbar bringt Siewerth die Zufälligkeit und Partikularität des Endlichen in einen Zusammenhang mit der Unordnung und Unsicherheit des Willens und seinen Entscheidungen. Andererseits beabsichtigt er nun gerade nicht, Thomas von Aquin zu unterstellen, es gebe einen nahtlosen Übergang von der Mangelhaftigkeit, Zufälligkeit und Vielfalt des Endlichen zu einem freien Willen, der verunsichert durch das Endliche falsche Entscheidungen trifft und ins moralisch Böse abrutscht, in dem sich erst recht das Nichts bekundet, das gewissermaßen unterhalb des Seienden als Abgrund lauert. Vielmehr begreift Siewerth die Naturübel, die zur Mangelhaftigkeit des Endlichen gehören, im Sinn einer soul-making-theodicy als Bewährungsraum des freien Willens, der nicht dazu determiniert ist, an seiner Unordnung und Unsicherheit zu scheitern, sondern Übel und Unordnung zu bestehen. Ohne diese Unordnung, Unschärfen, Zufälligkeiten, verwirrende Partikularität und Naturübel gibt es Siewerth zufolge, so versteht er Thomas, weder die Vielfalt und den Reichtum endlichen Seins und Lebens (das die göttliche Lebensfülle widerspiegelt), noch endliche Freiheit, die zu sittlich relevanten Entscheidungen fähig ist. In der Tat kann Thomas das Universum als Bild begreifen, das nur deshalb analog der Fülle göttlichen Lebens und der Weisheit des Schöpfers Ausdruck verleiht, weil es durch dunkle Linien seinen hellen Partien Kontrast verleiht. Siewerth zitiert die Aussage des Thomas in De potentia, q. 3 a. 6 ad 4 nach der Gott niemals das Naturübel noch das moralisch Böse als solches will, sondern dass er es billigt und zulässt zur Demonstration seiner Weisheit und Macht, die alles zum Guten zu wenden vermag. Wie z.B. das natürliche „Übel des leiblichen Verderbens“ der Lebenserhaltung des Löwen dient, so ermöglicht das moralische Übel der Verfolgung das „Gute der Geduld“ (131). Thomas übernimmt dieses Verständnis des malum physicum und malum morale von Augustinus2, dem sich Siewerth anschließt. Der Einwand, dass das moralische Übel der Verfolgung zwar Geduld bei den Verfolgten generieren mag, ohne die die Schöpfung um eine Tugend ärmer wäre, dass aber Verfolgung auch weitere Untugenden erzeugen kann, wie Schadenfreude, die Lust an der Qual der anderen oder auch Rachegelüste bei den Opfern – dieser Einwand des australischen Religionskritikers John L. Mackie müsste noch Berücksichtigung finden.
Festzuhalten bleibt, dass mit der Absorption auch des moralisch Bösen durch ein Gutes nicht das faktische Vorkommnis des Bösen gebilligt werden soll. Es entspringt der menschlichen Freiheit in einer niemals notwendigen Weise. Nur wenn es einmal in der Welt ist, kann Gott aus ihm noch Gutes entstehen lassen, was nicht bedeuten muss, dass das Gute das Böse aufwiegt oder gar neutralisiert. Im Fall von Auschwitz ist das ganz unvorstellbar. Genauso wenig kann man die 3,5 Millionen Kinder, die jährlich an Mangelernährung und Hunger sterben, irgendwie durch ein höheres Gut ausgleichen und als dunkle Kontrastlinien in einem bunten Schöpfungsbild interpretieren.

V.

Siewerth weist allerdings die Möglichkeit zurück, an den konkret existierenden Übeln die Zulassung des Bösen zu vermessen. Vielmehr bezieht er sich – jetzt theologisch argumentierend – auf Gottes Entschluss, sich selber als umfassendes Heil dem Menschen mitzuteilen. Siewerth erkennt in den thomasischen Thesen zum Bösen und Guten einen geradezu tragischen Gott, dessen je größere Liebe und Selbstmitteilung auch die Möglichkeit einer immer größeren Verweigerung aufseiten des Menschen herbeiführt. Wer diese Möglichkeit des Bösen neutralisieren will, darf nicht lieben. Wer aber nicht liebt, entzieht dem Sein ein zentrales Gut und schmälert es, macht es nichtiger: Die Vermeidung der Möglichkeit des Bösen durch die Verweigerung der Liebe setzt also das Böse erst recht in Kraft. Dessen Überwindung kann nur wieder durch Liebe geschehen, was erneut die Möglichkeit des Bösen aufreißt. So kann eben auch die Geduld, die Verfolgte für sich entwickeln, die Verfolger noch mehr provozieren und noch aggressiver agieren lassen. Die Alternative zu dieser tragisch-dialektischen Verflechtung von Gut und Böse besteht aber nur in der Vernichtung der menschlichen Freiheit.
Hegels Philosophie wird von Siewerth in diesem Zusammenhang begrüßt, weil sie mit der Vorstellung vom absoluten Geist operiere, der alle Formen des Bösen auf das Gute hin zu beziehen und zu überwinden vermag. Gegenüber jeder List der Vernunft, mit der, Hegel zufolge, der Geist das Böse zugunsten des Guten überwindet, betont Siewerth „den erhabenen Ernst“, der dazu notwendig ist und der sich in einer „sich opfernden Liebe“ (134) darstellt. Ob ihre Kreuzesgestalt und geduldige Demut eschatologisch jede Verstockung von innen her aufbricht und beispielsweise die Peiniger und Mörder von Auschwitz zu Reue und Umkehr bewegt und ihre Opfer zur Vergebung ermutigt – das kann zwar vom Menschen aus nicht gewusst werden, bleibt aber berechtigte endzeitliche Hoffnung, die auf Gottes immer noch größere Liebe angesichts noch so großer menschlicher Sünde setzt. Eine auf Thomas sich stützende Theodizee ist für Siewerth jedenfalls diesseitig nicht abzuschließen. Wenngleich sich einzelne tragende Elemente entwickeln lassen, steht am Ende doch eine reductio in mysterium aus Respekt vor der Freiheit Gottes, der Freiheit des Geschöpfs und vor dem überraschungsreichen Zusammenspiel beider Freiheiten. In diesem spezifischen Sinn kann man Siewerths Thomas-Deutung den Theodizee-Ansätzen zurechnen, die man mit dem Label Free-will-defense versieht.

Diese kursorischen und unvollständigen Anmerkungen zu Siewerths Einleitung in die Thomas-Texte zum freien Willen machen nochmals deutlich, dass sie eine eigene Abhandlung darstellt. Sprache und Stil mögen nicht mehr zeitgemäß wirken, aber die behandelte Thematik ist es allemal.

Schließlich bleibt denjenigen zu danken, die am Zustandekommen dieser Veröffentlichung beteiligt waren. Zu danken ist Frau Marsha Verheyen für das Einscannen aller Texte und das unermüdliche Korrekturlesen. Ganz besonderer Dank gilt Herrn Corvin Rabenstein für die Projektleitung und das Erstellen des endgültigen Textsatzes. Ohne den geduldigen Einsatz der Genannten würde dieses Buch Gustav Siewerths nicht in neuer Fassung vorliegen.

Bonn, im Dezember 2018Michael Schulz

INHALT

    Vorwort: Michael Schulz
    Einführung: Gustav Siewerth

  • I. ALLGEMEINES UND METHODISCHES ZUR GESCHICHTE DES FREIHEITSPROBLEMS
    1. Zur Auswahl der Texte
    2. Zur ontologischen Methode der Freiheitsdeutung
    3. Die menschliche Freiheit in den Lehren der Kirchenväter
    4. Die Weiterführung der Problematik im Mittelalter
    5. Die phänomenologische Ursprünglichkeit thomistischen Denkens
  • II. WESEN UND MÖGLICHKEIT EINER ONTOLOGIE DER FREIHEIT
    1. Der Freiheitsbeweis
    2. Die Notwendigkeit der Natur und die Möglichkeit der Freiheit - Der moderne Determinismus
    3. Das Wollen als Sein und Natur
    4. Die Wesensstruktur der Freiheit einer Natur
    5. Die Indifferenz in der Freiheit
    6. Die Zusammenfassung der ontologischen Grundzüge der Freiheit
    7. Die Freiheit des Tieres
  • III. DIE VERNUNFT ALS URSACHE DER FREIHEIT
    1. Die Selbstursächlichkeit durch das Urteil
    2. Die Innerlichkeit des Erkennens und die Selbstgegenwart der Seele: die substantielle Selbsterkenntnis
    3. Die Reflexion der Seele auf sich selbst in der Wahrheit
    4. Die Selbstversicherung des Urteils durch die Gotteserkenntnis - Die Erkenntnis als Teilhabe und Abbild
    5. Die Selbsterkenntnis der Seele aus ihren Zielgründen - Thomas und Kant
  • IV. DIE TRANSZENDENTALE WILLENSSUBJEKTIVITÄT
    1. Die Transzendenz des Wollens auf das Wirkliche und auf Gott
    2. Das bonum commune als apriorische Zielform des Wollens
    3. Die transzendentale Gewilltheit und Erschlossenheit des Geistes
    4. Thomas und Nic. Hartmann
    5. Die Vernunft als Ursache der Freiheit
  • V. DIE ONTOLOGISCHE SCHEIDUNG UND EINHEIT DER VERMÖGEN
    1. Die konstitutive Zusammensetzung des endlichen Seins und die Notwendigkeit der Vermögen
    2. Das Vermögen als „Seinsminderung“ und sein Hervorgang aus der Seele
    3. Das Verhältnis der Vermögen zueinander
    4. Der Gegensatz zu Augustinus, Bonaventura und Duns Scotus
    5. Die Scheidung der Vermögen als Privation und Abbild
    6. Albertus Magnus: Die freie Entscheidung als drittes Vermögen
    7. Das transzendentale Subjekt als vollendete Natur
  • VI. DIE FREIHEIT ALS ARTBESTIMMUNG DES WILLENS UND ALS AUSÜBUNG (LIBERTAS SPECIFICATIONIS ET EXERCITII)
    1. Das Bewegtsein des Willens durch Subjekt und Objekt
    2. Die Ur- und Grundbestimmtheit des Willens
    3. Die volle Dimension des Guten als Ziel und Bestimmungsgrund des Wollens
  • VII. DIE ERKENNTNIS DES GUTEN
    1. Die Erkenntnis des Guten in der transzendentalen Seinserkenntnis und die Erweckung des Willens durch Gott
    2. Die Erkenntnis des Guten unter Vermittlung des sinnlichen Strebens
  • VIII. DER WILLE ALS VERNUNFTWILLE
    1. Die Hinsicht des Guten als Urteilsmaß und Strebegrund
    2. Die Einigung des Allgemeinen des Erkennens mit dem Besonderen des Strebens
    3. Das praktische Urteil
    4. Die freie Wahlentscheidung (liberum arbitrium)
    5. Das einfache Wollen und das beabsichtigende Streben (velle et intendere)
    6. Die „Wahl“ als Weise der Beabsichtigung
    7. Der Vernunftbefehl
    8. Die Vernunft als Ursache der Freiheit
    9. Die Öffnung der Problematik auf Martin Heidegger. Wegen, Wägen, Wagen
    10. Das reale Bewegtsein des Willens durch das Ziel
    11. Der Streit zwischen Heinrich von Gent und Herväus Natalis
  • IX. DER WILLE UND DAS SINNLICHE STREBEN
    1. Die empirische Willentlichkeit
    2. Das sinnliche Begehren und der Zornmut als Grund vermögen des unteren Strebens
    3. Das Herz als Lebensgrund der Natur und Träger ihrer sittlichen Erkräftigung - Die Grundleidenschaften
    4. Die Einheit und Zuordnung von Geistwille und unterem Streben - Die sittliche Freiheit der unteren Natur
    5. Die gegenseitige Beeinflussung von oberem und unterem Streben
    6. Die Freiheit als schöpferische Verwandlung und Bereitung der Natur
  • X. DAS ABSOLUTE IN DER MENSCHLICHEN FREIHEIT
    1. Die vierfache Absolutheit im freien Wollen
    2. Die Endlichkeit und Bedürftigkeit des absolut Vollendeten
  • XI. DIE BEWEGGRÜNDE DES WOLLENS
    1. Das Gute der Vernunft als Beweggrund
    2. Die zufälligen Umstände als Bestimmungsgrund des Wollens
    3. Das Sein des Menschen als Erkenntnis- und mittelbarer Bestimmungsgrund
  • XII. DIE FREIHEIT ZUM BÖSEN
    1. Der ontologisch gute Wille und die Möglichkeit des Bösen
    2. Das Böse aus Unwissenheit, Schwäche und Bosheit
    3. Das innere Werden des Bösen oder seine Ermöglichung aus dem Guten
  • XIII. GOTT UND DAS BÖSE
    1. Das Verhältnis Gottes zum Bösen
    2. Warum hat Gott das Böse zugelassen?
    3. Die gnostische Verfehlung des Bösen - Die Dialektik des Bösen in Hegels Phänomenologie des Geistes
    4. Gott als tätige Ursache der bösen Handlung Die „praemotio physica“ - „Thomismus und Molinismus“
    5. Das Zuvorkommende der freien Handlung in der partikulären Selbstermöglichung - Die Erkennbarkeit der freien Handlung
    6. Die Ewigkeit und Überzeitlichkeit der freien Entscheidung - Kant, Schopenhauer, Schelling
    7. Die Kritik der Schellingschen Freiheitslehre
    8. Die Lösung des Aquinaten
    9. Gott als ewiger Entschluß zur zeitlichen Welt - Der Grund der Ordnung der Dinge
    10. Die ideale, ewige Präformation des Menschen als Schein - (Schelling und Calvin)
  • XIV. SCHLUßWORT
  • Anhang
    • Determination und Freiheit in der Natur
    • Descartes‘ Lehre von der Freiheit und Sartres Deutung
    • Ontologische und intuitive Erkenntnis der Seele (Augustinus und Thomas)
    • Der Vorrang der Vernunft vor dem Willen
    • Der Wille und die Gottesschau
    • Der Wille im Vernunftakt der Gottesschau
    • Thomismus und Molinismus
  • THOMAS VON AQUIN:
  • DIE MENSCHLICHE WILLENSFREIHEIT