Menschenbild und Humanisierende Bildung

MENSCHENBILD UND HUMANISIERENDE BILDUNG
ZUR PHILOSOPHISCHEN PÄDAGOGIK GUSTAV SIEWERTHS

EINFÜHRUNG

In der aktuellen Debatte über föderative Bildungspolitik, Inklusion und den Bologna-Prozess, aber auch im wissenschaftlichen Diskurs der Bildungs- und Erziehungswissenschaften stellt sich verschärft die Frage nach der Bildung selbst. Was ist Bildung? Welche Inhalte zeichnen sie aus? Welche Pädagogik macht gebildet?

Der Philosoph und Pädagoge Gustav Siewerth (1903 – 1963), dessen 50. Todestag im Oktober 2013 zu diesem Sammelband veranlasste, stellte sich diesen hochaktuellen Fragen in einer philosophischen Perspektive. Er insistierte auf dem inneren Zusammenhang von Menschen-Bild und Bildung, von Anthropologie und Pädagogik. Ohne klares Menschenbild ist Siewerth zufolge eine kohärente Erziehung unmöglich. Nach seiner Auffassung und der anderer Bildungswissenschaftler befähigt auch erst die innere Aneignung eines eindeutigen Bildes vom Menschen zur Mündigkeit, zu einem Urteils- und Handlungsvermögen in Bezug auf sittliche und rechtliche Werte, zu Toleranz und Demokratie1. Biographisch verbindet sich in Siewerths Persönlichkeit eine intensive wissenschaftliche Grundlagenforschung zur Pädagogik mit einem weiten pädagogischen Tätigkeitsfeld: in der Lehrerausbildung, in zahlreichen wissenschaftlichen Akademien und vor allem als Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschulen in Aachen und in Freiburg im Breisgau.

Die vorliegenden Beiträge bieten nicht mehr als Schlaglichter: Sie beleuchten zentrale Aspekte und Vorstellungskomplexe der philosophierenden Pädagogik Siewerths. Die Autoren dieses Bandes sind sich bewusst, dass Siewerths philosophische Pädagogik quer liegt zur empirischen, ps ychologisch und neurowissenschaftlich ausgerichteten Pädagogik der Gegenwart. Aber darin kann man ihren besonderen Reiz erkennen. Querdenker verunsichern, weil sie den blinden Fleck im eigenen Selbstverständnis aufdecken; sie motivieren zur Revision eingefahrener Denkgewohnheiten. Quer zur Pädagogik der Gegenwart liegt ebenso Siewerths dezidiert christliche Ausrichtung seiner Bildungsphilosophie. Aber dieses Unzeitgemäße hat schon neue Beachtung gefunden: Man entdeckt den Zusammenhang zwischen Religion als Form grundlegender Bindung und der pädagogischen Praxis, die ohne Bindung nicht auskommt 2. Diese neue Aktualität des Zusammenhangs von Religion, Bindung und Bildung begründet die Vermutung, dass auch andere pädagogische Einsichten Siewerths ihre beste Zeit der Rezeption noch vor sich haben.

Der erste Beitrag von Heinrich Beck Der philosophische Weg zu Gott nach Gustav Siewerths „Metaphysik der Kindheit“ – komplementär zu Rut Björkmans mystischem Weg? bietet einen ersten Kontakt mit Siewerths ontologisch ansetzender Anthropologie, die die Grundlage seiner Pädagogik darstellt. Beck verbindet (hamartiologische) Überlegungen der aus Schweden stammenden und in Deutschland lebenden Mystikerin Rut Björkman (1901-1988) mit Gustav Siewerths Seinsauslegung und Anthropologie. Während Björkman auf die Überwindung einer inneren Egozentrik (Sünde) des Menschen durch einen Akt der Selbstüberwindung dank Gottes Gnade setzt, erschließt nach Einschätzung Becks Siewerth die ontologisch-„ natürliche“ Möglichkeitsbedingung sowohl eines solchen Aktes als auch der Erkenntnis der Egozentrik. Martin Heideggers Daseinsanalytik soll Siewerth zufolge zeigen, dass diese Egozentrik des Menschen mit einer Erfahrung der Ungeborgenheiten des Lebens in Angst und Sorge koinzidiert: dass der Mensch dem Nichts ausgesetzt ist. Die Möglichkeit dieser Erfahrung gründet aber, wie Beck im Blick auf Siewerths Werk Metaphysik der Kindheit ausführt, in einer anderen, ursprünglicheren: in der Erfahrung der begabenden Gabe des Seins, die sich in der Kindheit – insbesondere durch die Eltern vermittelt – dem Menschen zuspielt. Diese Seins-Erfahrung ist zugleich eine Erfahrung der Geborgenheit. Erst vor dem Hintergrund der Erfahrung ursprünglicher Geborgenheit hebt sich die Erfahrung der egozentrisch-ungeborgenen Existenzweise ab. Die „natürliche“ Erfahrung der Seins-Begabung, die Siewerths Philosophie entfaltet, öffnet den Menschen aber für den ursprünglichen transzendenten Geber aller Wirklichkeit, der mit seiner „übernatürlichen“ Gnadengabe den Menschen vollendet und, dadurch auch faktisch, wie es die Mystikerin Björ kman erläutert, aus seiner sündhaften Egozentrik herausholt.

Nach Becks Ausführungen zu Siewerths Anthropologie, die sich bereits an Siewerths bildungsphilosophischer Abhandlung Metaphysik der Kindheit orientiert, widmet Emmanuel Tourpe seinen Aufsatz ganz dieser Schrift, in dem er fragt: Warum Gustav Siewerths Metaphysik der Kindheit ein Meisterwerk ist, das mehrere Polaritäten beschreibt. Erneut wird der innere Zusammenhang von Ontologie und Anthropologie herausgearbeitet, was unter dem Leitwort der Polarität geschieht. Gemeint sind dialektische Bezüge und Verhältnisse, die den Menschen genauso kennzeichnen wie das Sein selbst. Anthropologie wird zur Seinsauslegung, was Siewerths geistige Nähe zu Martin Heideggers Daseinsanalyse offensichtlich macht. Als genialen Einfall Siewerths präsentiert Tourpe den Ansatz bei der Kindheit: Denn dadurch, dass Siewerth die Kindhei t zum Erschließungsort der Metaphysik und Ontologie erklärt, gelinge es ihm in überzeugender Weise, das Sein als Liebe zu dechiffrieren, mehr noch: Siewerths Gedanke gewinne an Plausibilität, dass die Liebe als ein Transzendentale aufzufassen sei, das das Sein nochmals übersteigt. Polarität zeigt das Sein als Liebe, insofern es einerseits als allumfassendes Transzendentale von größter Allgemeinheit ist, aber andererseits zugleich das Konkrete, Leibhafte und Materielle einschließt. Dazu gehört die Empfängnis. Tourpe identifiziert den Ausdruck Empfängnis als Schlüsselbegriff, der weitere Polaritäten von Sein und Mensch erschließt: aktive Größen wie Zeugung, Intentionalität, Selbstannahme (Selbstbestimmung) und passive Größen wie Empfangen, Rezeptivität und vorgegebene Natur. Im Sinne Siewerths deutet Tourpe schließlich Sein als Fruchtbarkeit – gerade so ist Sein Liebe. Diese Einsichten Siewerths, die teilweise auch schon bei Franz von Baader zu finden seien, würden Tourpe zufolge religionsphilosophische Ansätze, die Sein als Gabe ins Spiel bringen (Ricoeur, Marion), vertiefen und „erden“.

Nach diesen anthropologisch-ontologisch orientierten Beiträgen versucht mein eigener Artikel, Siewerths Verständnis der Begabung vorzustellen und damit ein pädagogisches bzw. bildungswissenschaftliches Grundlagenthema anzusprechen. Unter dem Titel Begabungsloser Mensch – Gustav Siewerths alternatives Verständnis menschlicher Talente präsentiere ich die im Jahr 2013 von der Gustav-Siewerth-Gesellschaft aus dem Nachlass herausgegebene Schrift Das Wesen der Begabung. Die Pointe des Verständnisses von Begabung, das Siewerth entfaltet, liegt in seiner These von der ursprünglichen Begabungslosigkeit des Menschen. Danach ist Begabung kein genetisch kodiertes oder sonst im Menschen vorhandenes Programm, das lediglich mit pädagogischem Geschick „gestartet“ und zur Reife gebracht werden muss. Vielmehr begabt uns Siewerth zufolge ursprünglich die Liebe der Eltern und Erzieher, der Lehrer und anderer Bezugspersonen. In der zwischenmenschlichen Begegnung erschließt sich dem Kind, wie in den vorangegangenen Beiträgen ersichtlich wurde, das Sein als Liebe: Dieses Liebe-Sein ist die Begabung schlechthin, die auf den Geber aller Wirklichkeit verweist. Ich erlaube mir mit Siewerth eine trinitätstheologische Reflexion, um in einem analogen Sinn selbst den Geber aller Wirklichkeit als Mysterium von Gabe und Begabung verständlich zu machen. Ein Blick auf aktuelle Debatten über den Begabungsbegriff belegt, dass Siewerths These von überraschender Relevanz ist.

Markus Enders vergleicht in seinem Aufsatz Die philosophischen Bildungs- Lehren von Romano Guardini (1885 – 1968) und Gustav Siewerth (1903 – 1963) und ihre Relevanz für die Zukunft der menschlichen Bildung in Europa die bildungsphilosophischen Überlegungen Romano Guardinis und Gustav Siewerths. Es wird schnell ersichtlich, dass beide Philosophen nicht nur sola ratione, sondern auch von theologischen Prämissen aus argumentieren. Beide stellen den biblischen Gedanken von der Gottesebenbildlichkeit und Gottesabbildlichkeit des Menschen ins Zentrum ihres Ansatzes. Danach muss Bildung dazu verhelfen, die Bestimmung des Menschen, Gottes Bild zu sein, herauszubilden. Enders akzentuiert ebenso die Unterschiede zwischen beiden Autoren: Siewerth konzentriert seine bildungsphilosophischen Überlegungen auf den objektiven Vorgang des Bildungsgeschehens, auf die Bild-gebenden und Bildung-vermittelnden Gründe: auf Sein, Eltern, Mitwelt, Natur- und Dingwelt mit ihren vestigia Dei, auf Dichtung, Musik, Kunst – auf das Wunderbare als Erlebnis der exemplarischen Einheit von divinem Urbild und kreatürlichem Abbild. Guardini erschließt zusätzlich den subjektiven Aspekt der Bildung: Sie soll der Herausbildung und Profilierung der individuellen Persönlichkeit dienen, was aber gerade erforderlich macht, an Objekten der Bildung zu wachsen und im Engagement für sie z.B. Selbstlosigkeit einzuüben.

Aus bildungswissenschaftlicher Perspektive resümiert ausführlich und diskutiert eindringlich Volker Ladenthin in seinem Aufsatz Die Vermessenheit des Messens. Gustav Siewerths Kritik funktionalistischer Bildungstheorien die Invektiven Gustav Siewerths, die in ihrer rhetorischen Drastik eine Generalkritik des bundesrepublikanischen Bildungssystems formuli eren. Unmittelbare Intuitionen, unvermittelte Wertungen und viele Appelle überwögen das nüchterne Argument, den breit geführten Diskurs. Einen politisch gangbaren Ausweg aus der Krise der Pädagogik könne Siewerth daher nicht mehr aufzeigen. Im Prinzip impliziere Siewerths Angriff auf das Bildungssystem eine geistig-weltanschauliche Revolution, die aber nie stattgefunden hat. Trotz dieser Ineffektivität der Kritik Siewerths an einer Pädagogik, die ihre Orientierung am Menschen zugunsten eines wissenschaftlichen Interesses an messbarer Verhaltensveränderung gemäß gesellschaftspolitischer Vorgaben und beschlossener Handlungsnotwendigkeiten aufgegeben habe, könne man sie als unbequemen Mahnstein für eine andere Vision von Mensch und Pädagogik verstehen und würdigen. Inwieweit diese Vision oder christliche Utopie durchaus katholische Schulen bestimmt, wird im nächsten Artikel deutlich.

Der Beitrag von Dietfried Scherer mit dem Titel Mündiges Menschsein ermöglichen – zur Bildung und Erziehung an freien Schulen in kirchlicher Trägerschaft präsentiert einen bildungstheoretischen „Steckbrief“ der katholischen Schulen des Erzbistums Freiburg. Es wird erkennbar, wie unter den Bedingungen der Gegenwart pädagogische Ansätze Siewerths ihre Verwirklichung finden können. Leitend ist für diese Schulen – wie für Siewerths Denken – das jüdisch-christliche Menschenbild, nach dem der Mensch Bild Gottes ist. Aus dieser theologischen Prämisse entwickeln die katholischen Schulen ihr Verständnis von Mündigkeit und Demokratiefähigkeit. Davon war auch Siewerth überzeugt: Nur eine klare Bestimmung des Menschen befähigt zur Freiheit im Umgang mit anderen Weltanschauungen, zur Toleranz. Die bildtheologisch begründete Mündigkeit, zu der katholische Schulen führen möchten, motivierte sie unter anderem zum Projekt Compassion. Es zielt darauf ab, dass die Schüler Empathie und Solidarität mit marginalisierten Personengruppen entwickeln und Verantwortung für die Erhaltung der Schöpfung übernehmen. Die Schulen bemühen sich außerdem aufzuzeigen, wie Glaube und naturwissenschaftliches Weltbild miteinander zu verbinden sind. Auch darauf kam es Siewerth an, wie seine geistige Nähe zur Lebensphilosophie des Biologen und Naturphilosophen Hans André (1891 – 1966) belegt. Scherer erläutert, dass weder ein Leistungsdiktat noch das Funktionieren der Schüler im Mittelpunkt der Pädagogik stehen, sondern dass pädagogisches Bemühen auf den individuellen Schüler mit seinen Stärken und Schwächen zielt. Siewerth hat sich immer wieder dafür ausgesprochen, am einzelnen Schüler und seinen intellektuellen Möglichkeiten pädagogisch Maß zu nehmen und nicht die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nach allgemeinen Schemata zu vermessen. Selbstverständlich gehöre die seelsorgliche Begleitung von Schülern und Lehrern zur Identität katholischer Schulen. Der Glaube soll als tragende, sinnstiftende Kraft des Lebens erfahren werden. Nichts liegt Siewerth näher als alle pädagogischen Bemühungen in den Rahmen einer christlichen Weltanschauung zu stellen, wie er in seinem Aufsatz Die katholische Schule als Zentrum gläubiger Ausstrahlung in die Welt ausführt. Die katholische Schule erfülle ihre Aufgabe, wenn sie eine „Mündigkeit und Festigkeit des Glaubensurteils anstrebt“, also dazu bereit ist, „den geistigen, den innerlichen und mündigen Menschen zu erziehen“ 3.

Im letzten Beitrag mit dem Titel Gustav Siewerth als Vater und Pädagoge malt die Tochter Gustav Siewerths, Irene Joekel -Siewerth, ein Portrait ihres Vaters, bei dem sie ihre persönlichen Erlebnisse mit ihm in ihrer Schulzeit und mit seiner philosophischen Pädagogik ins Zentrum rückt. Sie gibt ein eindrückliches Beispiel für das, was ihr Vater unter Be-gabung verstand: Die gemeinsame Besichtigung der Mosaiken in Ravenna mit ihrem Vater und dessen Erklärungen begabten sie zur eigenen künstlerischen Tätigkeit. Der Besuch einer Montessori-Schule in Aachen machte Siewerths Tochter über weite Strecken mit Realitäten vertraut, die Siewerths Pädagogik einfordert. Nicht zufällig rezipiert er in seinen Schriften immer wieder Montessoris Vorstellungen. Sie kommen Si ewerths objektbezogenem Ansatz genauso entgegen wie die von ihm geforderte Rücksichtnahme auf die konkrete Entwicklung eines Kindes: Das Interesse an der Sache steht im Mittelpunkt, nicht die gute Note; der Verzicht auf Noten verhindert, ein Kind einem allgemeinen Lernpensum zu unterwerfen, das ihm möglicherweise nicht gerecht wird. Irene Joekel schildert ebenso ihre Eindrücke von der Lehrtätigkeit ihres Vaters: von Begeisterung und Intensität, die seine Lehrveranstaltungen in Aachen und Freiburg prägten und die Zuhörer fesselten. Er konnte begeistern, weil er „mit Geist, Herz und Sinnen“ offen war für die den Menschen bildende und begabende Wirklichkeit.

Michael Schulz

INHALT

  • Michael Schulz

    Einführung

  • Heinrich Beck

    Geborgenheit im Sein. Der philosophische Weg zu Gott nach Gustav Siewerths Metaphysik der Kindheit - komplementär zu Rut Björkmans mystischem Weg?

  • Emmanuel Tourpe

    Warum Gustav Siewerths Metaphysik der Kindheit ein Meisterwerk ist, das mehrere Polaritätem beschreibt

  • Michael Schulz

    Begabungsloser Mensch - Gustav Siewerths alternatives Verständnis menschlicher Talente

  • Markus Enders

    Die philosophischen Bildungs-Lehren von Romano Guardini (1885 - 1968) und Gustav Siewerth (1903 - 1963) und ihre Relevanz für die Zukunft der menschlichen Bildung in Europa

  • Volker Ladenthin

    Die Vermessenheit des Messens. Gustav Siewerths Kritik funktionalistischer Bildungstheorien

  • Dietfried Scherer

    Mündiges Menschsein ermöglichen - zur Bildung und Erziehung an freien Schulen in kirchlicher Trägerschaft

  • Irene Joekel-Siewerth

    Gustav Siewerth als Vater und Pädagoge